Siezen Sie noch oder duzt Du schon? Vor einigen Tagen verkündete Nicolas Lindner (38), NextGen und Co-CEO der Naturkosmetikmarke BÖRLIND aus dem baden-württembergischen Calw, auf seinem LinkedIn Account, dass man endlich vor einigen Wochen zum einheitlichen „Du“ übergangen sei. Es folgte auch eine Erklärung, warum das so lange gedauert habe: Der Vater sei strikt dagegen gewesen. Wer sich ein wenig mit Familienunternehmen beschäftigt, wird sofort unweigerlich an den typischen Patriarchen denken, der in aller Regel eine natürliche Form der Distanz wahren möchte, andernfalls sieht er seine Stellung als Firmenoberhaupt gefährdet. Es kann ja wohl nicht sein, dass dieser vom Pförtner bis zum Kollegen aus der Geschäftsführung geduzt wird. Das „Du“ muss man sich doch (hart) erarbeiten und verdienen, oder etwa nicht?
Während die Etikette eine formelle Ansprache am Arbeitsplatz lange Zeit voraussetzte, entscheiden sich heute immer mehr Unternehmen für eine Ansprache per „Du“. Dieser Trend zeichnet sich übrigens auch im Recruiting ab, denn in Stellenanzeigen wird immer häufiger ungefragt geduzt – und das nicht nur bei Praktikantenjobs oder Lehrstellen.
Es könnte doch so einfach sein, wäre da nicht die deutsche Sprache. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain verzweifelte auf einer seiner Europareisen auch an unserer Grammatik. Dies hielt er 1880 in einem äußerst erheiternden Essay mit dem Titel „Die schreckliche deutsche Sprache“ fest. Twain hatte, oh Wunder, mit dem Wörtchen „Sie“ beziehungsweise „sie“ so seine Herausforderung, weil es im Englischen für „she“, „her“, „you“, „it“, „they“ und „them“ stehen könnte und er nie die richtige Bedeutung wusste.
Dabei macht ein einheitliches „Du“ so vieles einfacher. Erinnern Sie sich an diese Situation? Sie haben gerade frisch den Arbeitgeber gewechselt und starten in einem neuen Umfeld. In den ersten Tagen lernen Sie eine Vielzahl an neuen Menschen kennen. Hinzu kommt noch, dass der ein oder andere Kollege ihnen sofort das „Du“ anbietet. Als hätten Sie am nächsten Tag nicht schon Mühe und Not genug, sich an die Namen zu erinnern, Sie müssen sich auch noch merken, wer Ihnen (schon) das „Du“ angeboten hat.
Früher war alles einfacher: Die „Oberen“ duzten die „Unteren“, die Jungen siezten die Alten. So wurde mir das mal als Kind beigebracht. Heute ist die Welt wesentlich unübersichtlicher geworden, so auch beim Adressieren.
Und jetzt kommt sie, die Frage, auf die Sie schon gewartet haben: Wer hat Schuld daran? Die üblichen Schurken, wir nennen sie mal Globalisierung und Digitalisierung. Mit ihnen war Englisch als Verhandlungssprache auf dem Vormarsch.
Was in Unternehmensberatungen, lässigen Start-ups, und hippen Medienunternehmen schon längst Normalität ist, hält nun auch in alteingesessenen (Familien-) Unternehmen vermehrt Einzug. Wollen sich diese Unternehmen etwas abschauen oder müssen sie es sogar? Der Arbeitsmarkt ist leer gefegt, nicht nur Fachkräfte fehlen, auch die Suche nach Führungskräften dauert inzwischen deutlich länger als vor der Pandemie. Nun konkurrieren also auch die etablierten Unternehmen mit jenen Start-ups, wo ungeregelte Arbeitszeiten, Home-Office, Tischkicker, Obstkörbe und Hoodies mit Turnschuhen ein „Sie“ gar nicht mehr zeitgemäß erscheinen lassen.
Passt ein kollektives Du wirklich nicht zu Familienunternehmen? Mir fallen spontan einige Namen ein, die ihre Belegschaft liebevoll als Betriebsfamilie oder gar als Familienmitglieder bezeichnen. Letztere Bezeichnung findet man beispielsweise bei Viessmann, jenes Unternehmen, das seit letztem Jahr von dem 33-jährigen Maximilian Viessmann als alleiniger Firmenchef geleitet wird. Auf deren Internetpräsenz findet man dazu auch eine klare Ansage: „Bei den Meetings duzen wir uns alle, wie es in unseren Büros üblich ist.“ Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag im November des Jahres 2020, als ich vor meinem Interview mit ihm seinen Pressechef fragte, wie er denn angesprochen werden möchte. Bei unserer Zusammenkunft war die Frage aber schnell geklärt. Er begrüßte mich mit den Worten: „Hallo, ich bin Max“.
Es kursiert bisweilen die Auffassung, dass diejenigen, die das „Sie“ im beruflichen Alltag brauchen, um die natürliche Distanz aufrecht zu erhalten, ihren Führungsstil in Frage stellen sollten. Wer über natürliche Autorität verfüge, brauche kein „Sie“ als Anredeform.
Doch wollen die Mitarbeiter das eigentlich? Und macht es den Arbeitsplatz dadurch zu einem besseren Ort? An der Hochschule Osnabrück haben Wirtschaftspsychologen etwa 1.300 Personen befragt, wie sie zum Duzen im beruflichen Kontext stehen. Diese Ergebnisse stellen die Duz-Kultur in Frage. Ein verbindliches „Sie“ finden erwartungsgemäß die wenigsten gut. Verbindliches Duzen stößt immerhin auf etwas mehr Akzeptanz unter den Befragten. Am beliebtesten war jedoch das Modell, bei dem die Beschäftigten – völlig unabhängig von der hierarchischen Stellung im Unternehmen – selbst und individuell entscheiden können, wen sie duzen oder siezen. Also bleibt alles beim Alten?
Nachdem in vielen Familienunternehmen die sogenannte Next Generation gerade im Begriff ist, in die Geschäftsführungen und Vorstände einzuziehen und diese Generation sich deutlich autonomer für ihren Führungsstil entscheidet, bleibt abzuwarten, wie sich die Kulturen in den Familienunternehmen in den nächsten Jahren verändern werden.
Eines ist aber auch klar: Ein von „oben“ verordnetes kollektives „Du“ ist nicht die Lösung. Die gesamte Unternehmenskultur muss dieses Wir-Gefühl vermitteln. Es soll auch mal den ein oder anderen Dax-Vorstand gegeben haben, der glaubte, mit Sneakers und ohne Krawatte könne man eine Kultur von heute auf morgen ändern. Albert Schweitzer wusste schon: „Kultur fällt uns nicht wie eine reife Frucht in den Schoß. Der Baum muss gewissenhaft gepflegt werden, wenn er Frucht tragen soll.“