Jörg Rückauf ist CEO der Hirschvogel Group in Denklingen.
Marco Henry Neumueller: Herr Rückauf, Sie haben am 1. Juli 2021 als CEO bei Hirschvogel gestartet. Wo liegen die Ursprünge des Unternehmens und was haben Sie bei Ihrem Start vorgefunden?
Jörg Rückauf: Die Hirschvogel Group entstand sozusagen aus einer Dorfschmiede. Das Familienunternehmen wurde als Industrieschmiede „Hammerwerk Hirschvogel OHG“ 1938 von den Brüdern Hirschvogel hier in Denklingen gegründet. Darunter Willy Hirschvogel, der Großvater des heutigen Mehrheitsgesellschafters Dr. Marc Hirschvogel. 1981 folgte die Umfirmierung in die Hirschvogel Umformtechnik GmbH. Daraus ist die heutige Hirschvogel Group entstanden, die weltweit Stahl- und Aluminiumkomponenten vor allem für die Automobilindustrie entwickelt und fertigt. Denklingen ist aber nach wie vor Hauptsitz und mit rund 2.000 Mitarbeitenden zugleich größter Standort der Unternehmensgruppe.
Vorgefunden habe ich ein international aufgestelltes Unternehmen, das mir sehr gut gefällt. Wir haben neun Produktionsstandorte weltweit, zwei Beteiligungsgesellschaften, circa 6.300 Mitarbeitende und letztes Jahr 1,2 Milliarden Euro Umsatz erzielt. Bis 2030 und darüber hinaus streben wir weiteres Wachstum an. Einer unserer Leitsprüche lautet dabei: „Professionell wie ein Konzern vorgehen, aber mit dem Herzen Familienunternehmen bleiben“. Da steckt viel Wahrheit drin. Wir müssen wie ein Konzern handeln, jedoch ohne dieses hierarchische Konzern- oder Silodenken: Direkte Kommunikation, der direkte Austausch, der offene Umgang miteinander sind charakteristisch für Hirschvogel – und, wie ich glaube, für alle Familienunternehmen.
Wichtige Basis, um Hirschvogel nach vorne zu entwickeln und durch die Transformation in der Automobilbranche zu führen, ist auch das gute Miteinander an der Unternehmensspitze. Mit CFO Walter Bauer und COO Dr. Dirk Landgrebe habe ich tolle Kollegen. Sie sind absolute Experten in ihrem jeweiligen Bereich, und wir ergänzen uns in unseren Kompetenzen. Da wir nach wie vor ein unabhängiges Familienunternehmen sind, stehen wir in engem Austausch mit den Gesellschaftern sowie dem Beirat. Dem Beirat gehören neben den Familiengesellschaftern Dr. Marc Hirschvogel und Hans-Jürgen Britzger die beiden Vertreter der Frank Hirschvogel Stiftung Armin Maudrich und Walter Pischel an. Dieser kleine Kreis ermöglicht Kommunikation auf kurzen Wegen und schnelle Entscheidungen.
Marco Henry Neumueller: Welche mittel- bis langfristigen Ziele verfolgt das Familienunternehmen? Gibt es ein Szenario, wo das Unternehmen in 5 bis 10 Jahren stehen möchte?
Jörg Rückauf: Aktuell gibt es viele Unwägbarkeiten wie sich der Russland-Ukraine-Konflikt oder auch die coronabedingten Supply-Chain-Probleme kurz-, aber auch mittel- und langfristig auswirken werden. Das müssen wir im Blick behalten. Davon ungeachtet zeichnet sich in der Automobilindustrie klar ab: Es geht weg vom Verbrennungsmotor hin zu Elektromobilität. Wir richten unsere Strategie daran aus. Auch wenn wir an unseren Standorten generell in den Regionen für die Regionen entwickeln und fertigen, berücksichtigen wir dabei globale Veränderungen wie Wohlstandsverschiebungen und sich wandelnde politische oder gesetzliche Rahmenbedingungen. So wird das Handelsabkommen USMCA voraussichtlich etwas Wertschöpfung von Asien nach Nordamerika verlagern.
Wir stellen unser Produktportfolio aktuell auf Elektromobilität um. Rund siebzig Prozent unser akquirierten Aufträge im letzten Jahr zahlten bereits aufs „Grüne Geschäft“ ein, gingen also in Richtung CO2-emissionsfreie Mobilitätskonzepte. Damit wandeln wir uns etwas schneller als der Markt und sind weltweit bei den meisten Elektromobilitätsplattformen dabei. Das heißt, wir laufen nicht hinterher. Wir gestalten den Wandel aktiv mit und gehen davon aus, dass wir die Transformation bis 2030 abgeschlossen haben.
Im Sinne einer Last-Man-Standing-Strategie produzieren wir parallel weiter Komponenten für Verbrennungsmotoren, zum Beispiel Einspritz-Rails, Injektorkörper oder Kolbenrohlinge – als Tier-1 oder auch als Zulieferer für die großen Tier-1. In diesem Bereich müssen wir Kostenführer sein und brauchen einen optimalen Produktions-Footprint.
Zugute kommt uns bei der Transformation, dass wir viele unserer Fertigungsanlagen sowohl für Produkte im Verbrennerbereich als auch im Bereich Elektromobilität nutzen können. Die einen Produkte laufen runter, die anderen laufen hoch. Elektromobilität ist für uns also keine Bedrohung. Sie erhöht unsere Resilienz und ermöglicht die optimale Auslastung unserer Anlagen.
Wir wollen bis 2030 weitere Marktanteile gewinnen und wichtiger Partner der OEMs und der Tier-1 sein. Unser Ziel ist es, bis 2030 siebzig, achtzig Prozent grüne Produkte zu haben und gleichzeitig den Umsatz in die Zwei-Milliarden-Euro-Region zu entwickeln.
Marco Henry Neumueller: Selbstzufriedenheit ist der größte Feind von Innovation und Qualität. Wie innovieren Sie?
Jörg Rückauf: Als unabhängiges Familienunternehmen innovieren wir mit Bedacht und gehen nur in solche Produktbereiche, die zu Hirschvogel passen. Dabei agieren wir stark technologieorientiert: Wir überlegen, was wir an den Produkten unserer Kunden mit den Technologien, die wir im Haus haben, verbessern können. Wir stellen uns die Frage, ob beispielsweise ein OEM mit unserem Produkt einen höheren Wirkungsgrad erzielen kann. Gerade Energieeffizienz ist heute ein wichtiges Thema bei Elektromotoren und deren Plattformen. Vielleicht schafft es der Kunde auch, mit unseren Produkten das Fahrzeug leichter zu gestalten, so wie mit unseren Aluminiumschmiedeteilen in Fahrwerken. Letztlich steht also der Mehrwert im Vordergrund. Und der muss sowohl bei unseren Kunden als auch beim Endkunden, also in der Regel beim Autofahrer, ankommen.
Mit dieser Art zu innovieren, sind wir recht erfolgreich, auch weil wir die Märkte und ihre Entwicklung genau beobachten. Für uns ist es sehr wichtig zu verstehen, wie sich die einzelnen Märkte, insbesondere Asien, Europa und Nordamerika verändern. Die Transformation verläuft in den Ländern mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Fahrzeugtypen und -anforderungen sind verschieden. Das schlägt sich in unseren Produkten nieder, und dementsprechend richten wir unsere Entwicklungsprojekte aus.
Marco Henry Neumueller: Sie haben 16 Jahre bei Mahle verbracht. Welche Erfahrungen bringen Sie aus dieser Zeit mit und was müssen Sie komplett neu denken?
Jörg Rückauf: Ich bringe das Bewusstsein mit, dass man permanent hart an den Kosten arbeiten und sein eigenes Handeln in Frage stellen muss, um im Wettbewerb, insbesondere gegenüber „New Entries“ bestehen zu können. Man kann sich nie ausruhen, nur kurz genießen, dann heißt es gleich wieder zu überlegen, wie man noch besser werden kann. Gerade im Automotivebereich ist außerdem wichtig, dass man die Märkte, ihre Entwicklung, die Kunden sowie die regulatorischen Rahmenbedingungen wirklich versteht. All das habe ich bei Mahle gelernt. Ich bin dort als Leiter Konzernvorausentwicklung eingestiegen, durfte später weltweit Entwicklungsbereiche leiten und konnte mir Kompetenzen in Zukunftstechnologien aneignen. Diese kann ich bei Hirschvogel nun direkt einbringen, da ich als CEO die Bereiche Vertrieb und Entwicklung verantworte.
Wie eingangs erläutert, bringe ich aus meiner Zeit bei Mahle darüber hinaus das Wissen mit, dass wir als wachstumsorientiertes Unternehmen in dieser global vernetzten Welt nur effektiv und schnell arbeiten können, wenn wir professionelle Strukturen wie ein Konzern haben. Die häufig informellen Strukturen von Familienunternehmen kommen irgendwann an ihre Grenzen, in der Führung ebenso wie in der Kommunikation. Unsere Aufgabe ist es, die Organisation entsprechend weiterzuentwickeln, ohne das Herz zu verlieren. Das ist etwas, das ich bei Hirschvogel gelernt habe: Der Mensch steht hier wirklich im Vordergrund, ihn darf man bei allem Tun nie aus den Augen verlieren.
Marco Henry Neumueller: Welche Rolle spielt die Gesellschafterfamilie heute noch und wie würden Sie die für Familienunternehmen spezifische Kultur des Unternehmens beschreiben?
Jörg Rückauf: Hirschvogel ist zu 61 Prozent in Familienhand, die Frank Hirschvogel Stiftung hält 39 Prozent der Anteile. Wir sind also nicht zu 100 Prozent in Familienbesitz, aber trotzdem zu 100 Prozent ein Familienunternehmen – ganz nach dem Willen von Dr. Manfred Hirschvogel, dem Vater des heutigen Mehrheitsgesellschafters, der das Unternehmen von 1981 bis zu seinem überraschenden Tod im Jahr 2010 führte. Wenn wir wie andere Unternehmen unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken, dann weil wir die Beschäftigung der Mitarbeitenden sichern wollen. Wenn wir beispielsweise dem Standort Deutschland treu bleiben und die Produktion nicht in kostengünstigere Länder verlagern, dann weil wir uns – wie übrigens in all unseren Standortregionen – unserer gesellschaftlichen Verantwortung stellen.
Die Sicherung des Unternehmens als wirtschaftliches, unabhängiges und selbstständiges Familienunternehmen war für Dr. Manfred Hirschvogel der Hauptgrund zur Gründung der Stiftung. Die Frank Hirschvogel Stiftung fördert darüber hinaus Projekte in Wissenschaft und Forschung, unterstützt Promotionen, Masterarbeiten oder die schulische und berufliche Ausbildung. Konkretes Beispiel: Meine technische Assistentin war Stipendiatin der Stiftung.
Die Ausbildung junger Menschen ist uns auch im Unternehmen ein Anliegen. An unserem Produktionsstandort in Nordamerika startet in Zusammenarbeit mit der DIHK im Sommer beispielsweise ein duales Ausbildungsprogramm nach deutschem Vorbild. Es richtet sich an High-School-Absolventen, dauert drei Jahre und schließt mit einem Associate Degree ab – die amerikanische Vorstufe des Bachelors. Wir wollen jungen Menschen Bildung ermöglichen, sie in den Beruf führen, ihnen einen sicheren Arbeitsplatz bieten. Ein Punkt, der mir auch persönlich wichtig ist.
Die Gesellschafter haben die Führung ihres Unternehmens in fremde Hände gegeben. Aufgrund meiner beruflichen Laufbahn bringe ich, glaube ich, einige wichtige Voraussetzungen mit, um das Unternehmen als CEO im Sinne der Gesellschafter zu führen. Jetzt muss das Vertrauen zwischen den Gesellschaftern und uns drei Geschäftsführern wachsen. Was ich schätze, ist die persönliche Nähe. Die Gesellschafter lassen uns großen Freiraum, stehen aber jederzeit zur Verfügung, wenn wir Fragen haben.
Marco Henry Neumueller: Bitte vervollständigen Sie den Satz: An Familienunternehmen fasziniert mich …
Jörg Rückauf: … das Gemeinschaftsgefühl, das Zusammenhalten, auch wenn es schwierig wird.
Über das Familienunternehmen Hirschvogel
Die Hirschvogel Group ist Entwicklungspartner und Fertigungsspezialist für AutomotiveKomponenten aus Stahl und Aluminium sowie für Produktlösungen in den Bereichen elektronische Systeme und Mikromobilität. Die unabhängige Unternehmensgruppe in Familienhand beschäftigt weltweit rund 6.000 Mitarbeitende. Der Gesamtumsatz lag im Jahr 2021 bei 1,2 Milliarden Euro. Muttergesellschaft ist die Hirschvogel Holding GmbH mit Sitz im oberbayerischen Denklingen. Unter ihrem Dach vereint sie neun Produktions- und zwei Beteiligungsgesellschaften.
Im Komponentengeschäft zählt Hirschvogel mit neun Produktionsgesellschaften auf drei Kontinenten zu den weltweit größten Herstellern von massiv umgeformten und weiterveredelten Bauteilen aus Stahl und Aluminium. Das Leistungsspektrum reicht von Antriebsstrangkomponenten für alle Antriebstechnologien, über Getriebe- und Fahrwerkkomponenten bis hin zu Karosserie- oder Rahmenbauteilen. Sie finden in Pkw, Nkw sowie in den Bereichen Mikromobilität und Bike Anwendung.
Die Hirschvogel Industries GmbH versammelt Partnerunternehmen, an denen Hirschvogel eine Mehrheitsbeteiligung hält, unter anderem an der Automotive Synergies GmbH und der Usaneers GmbH. Die Hirschvogel New Ventures GmbH bündelt die Minderheitsbeteiligungen.