Dr. Michael Bolle ist Vorsitzender des Stiftungsrats der Carl-Zeiss-Stiftung sowie Vorsitzender der Aufsichtsräte der Carl Zeiss AG und der SCHOTT AG
Marco Henry Neumueller: Lieber Herr Bolle, was hat Sie bewogen nach Ihrer aktiven Zeit in der Geschäftsführung bei Bosch, wo Sie zuletzt als CTO und CDO verantwortlich zeichneten, zur Carl-Zeiss-Stiftung zu wechseln?
Michael Bolle: Wenn man sich meinen Werdegang etwas genauer ansieht, stellt man fest, dass ich viele unterschiedliche Dinge gemacht habe. In einer Phase meines Lebens war ich Wissenschaftler, in einer anderen Start-up-Unternehmer. Dann habe ich einen großen Teil meines Berufslebens mit und bei der Firma Bosch verbracht – in sehr unterschiedlichen Rollen auf allen Ebenen des Unternehmens. Was mich dabei immer angetrieben hat, waren die Themen Technologie, Innovation und Digitalisierung. So war ich in meiner letzten Rolle bei Bosch als Geschäftsführer für Digitalisierung (CDO) und Technologie (CTO) verantwortlich. Ich bin im letzten Jahr 60 Jahre alt geworden und dies war der Zeitpunkt, an dem ich mir die Frage stellte, wie diese nächste Lebensphase aussehen kann. Neben den klassischen Technikthemen, die ich bei Bosch über viele Jahre begleiten durfte, gab es bei mir einen starken Wunsch nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit. So habe ich für mich entschieden, dass ich in der nächsten Phase meines Berufslebens eine Aufgabe brauche, die mir deutlich mehr Freiheitsgrade gibt. Die Tätigkeit in der Bosch Geschäftsführung bedeutete stets einen hohen Abstimmungsaufwand. Ich hatte das Gefühl, dass meine Autonomie in dieser Zeit nicht besonders ausgeprägt war. Sie kennen vielleicht das Buch von Daniel Pink mit dem Titel „Drive“. Er spricht darin von den drei Treibern für die Motivation von Menschen: Das erste Element ist der sogenannte „Purpose“, die Sinnerfüllung und der Zweck. Das war und ist bei Bosch natürlich hervorragend: „Technik fürs Leben.“ Besser hätte es man nicht formulieren können und das hat mich immer angetrieben. Dann gibt es das zweite Element, Mastery, oder die Meisterschaft, bestimmte Dinge und Tätigkeiten besonders gut auszuführen. Dies war bei Bosch auch immer sehr gut ausgeprägt. Das dritte Element ist „Autonomy“ oder Selbstbestimmung. Hier muss man sich die Frage stellen, welche Möglichkeiten und Freiheitsgrade man selbst hat, ob man seine Ideen auch umsetzen kann, und das hat mir zum Schluss gefehlt. Zu diesem Zeitpunkt erreichte mich die Anfrage, ob ich mir vorstellen könne, die Nachfolge von Dieter Kurz als Stiftungsratsvorsitzender in der Carl-Zeiss-Stiftung zu übernehmen. Ich kannte das Konstrukt der Stiftung und des Stiftungsrats gar nicht. Natürlich kannte ich ZEISS als großartiges Technologieunternehmen, SCHOTT kannte ich etwas weniger gut, obwohl es auch ein sehr spannendes Technologieunternehmen ist. Wenn ich ehrlich bin, kannte ich die Carl-Zeiss-Stiftung aber überhaupt nicht. Ich habe mich daraufhin näher mit dem Thema auseinandergesetzt und auch intensive Gespräche mit Herrn Kurz und Ministerin Theresia Bauer geführt. Erst dann hatte ich eigentlich den Charme dieses Konstrukts verstanden. Was mich wirklich begeisterte, war der starke Fokus auf Technologie und Innovation. Sowohl in den Stiftungsunternehmen, bei ZEISS und SCHOTT, als auch im Statut der Carl-Zeiss-Stiftung selbst, der „Bibel“ der Carl-Zeiss-Stiftung. Sie ist öffentlich verfügbar und darin sind alle wesentlichen Dinge beschrieben. Man erkennt darin sehr klar, wie wichtig Ernst Abbe, dem Mastermind hinter der Stiftung, das Thema Technologie war. Technik und Technologie sind wesentliche Treiber für den Unternehmenserfolg von ZEISS und SCHOTT. Über die Fördertätigkeit der Carl-Zeiss-Stiftung möchte man den Rückfluss vom Unternehmenserfolg in die Gesellschaft ermöglichen. Das erfolgt über die Förderung von Naturwissenschaft und Technik im akademischen Umfeld. Das hat mich absolut überzeugt und ich habe mich dafür entschieden, diese Rolle zu übernehmen. Und nach neun Monaten in der Rolle kann ich sagen, dass ich all das so vorgefunden habe wie zu Beginn erwartet. Es ist eine tolle Aufgabe in einer einzigartigen Stiftung mit extrem guten und interessanten High-Tech Unternehmen. Ich habe den Schritt bisher noch keine Nanosekunde bereut (lacht).
Marco Henry Neumueller: Ist es Zufall, dass Sie zeitgleich sowohl Vorsitzender des Stiftungsrats als auch Vorsitzender des Aufsichtsrats der Carl Zeiss AG und der SCHOTT AG wurden oder hängen diese beiden Positionen immer zusammen?
Michael Bolle: Das ist ein Teil dieser Stiftungskonstruktion. Beide Unternehmen sind als Aktiengesellschaften organisiert. Im Jahre 2004 wurde das Stiftungsstatut grundlegend reformiert und die der Stiftung gehörenden Unternehmen in Aktiengesellschaften umgewandelt, mit allen Mechanismen, die dazu gehören. Die Anteile dieser Aktiengesellschaften gehören zu einhundert Prozent der Stiftung. Und um jetzt diese Zusammenarbeit und die Konstruktion wirklich rund zu machen, gibt es in der Stiftung drei wesentliche Organe. Das ist einmal die Stiftungsverwaltung bestehend aus den Wissenschaftsministern der Länder Baden-Württemberg und Thüringen, Theresia Bauer und Wolfgang Tiefensee. Daneben gibt es den Stiftungsrat. Dieser umfasst meine Position als Stiftungsratsvorsitzender sowie zwei Kollegen, Herrn Barner und Herrn Schweitzer, die mit mir zusammen den Stiftungsrat bilden. Weiterhin gibt es den Vorstandsbeirat, bestehend aus allen Vorstandsmitgliedern der beiden Unternehmen ZEISS und SCHOTT. Um diese drei eben genannten Organe der Stiftung miteinander arbeiten zu lassen, war man der Auffassung, dass man eine starke Verknüpfung der Stiftung mit den Unternehmen behalten muss. Dies hat man dadurch gelöst, dass der Stiftungsratsvorsitzende gleichzeitig sowohl der Aufsichtsratsvorsitzende der Carl Zeiss AG als auch der Aufsichtsratsvorsitzende der SCHOTT AG ist. Der Stiftungsrat in Summe ist der Vertreter der Anteilseigner, also der Stiftung, auch in den entsprechenden Hauptversammlungen. Dieses Konstrukt fand ich nicht nur spannend, sondern auch überzeugend. Diese Aufgabe macht mir große Freude und ich genieße die Zusammenarbeit mit den anderen Aufsichtsratsmitgliedern der Unternehmen ZEISS und SCHOTT.
Marco Henry Neumueller: Sowohl Bosch als auch ZEISS und SCHOTT sind Stiftungsunternehmen. Welche Unterschiede stellen Sie fest?
Michael Bolle: Zunächst einmal möchte ich mit den Dingen beginnen, die ähnlich sind. Das ist zum einen die Liebe zur Innovation und zur Technologie sowie das Selbstverständnis als High-Tech Unternehmen. Das findet man bei ZEISS und bei SCHOTT sowie auch bei Bosch. Auch die lange, erfolgreiche Unternehmensgeschichte haben alle drei Unternehmen gemeinsam. Die Unternehmen haben in dieser Zeit viele Krisen überwunden und sind trotz zahlreicher Herausforderungen erfolgreich geblieben, wobei natürlich bei ZEISS und SCHOTT die besonderen Herausforderungen und Einflüsse der deutschen Ost-West-Historie berücksichtigt werden muss. Das hatte Bosch in dieser Form nicht.
Nun komme ich zu den Unterschieden, die ich festgestellt habe. Zunächst sprechen wir über eine andere Größenordnung. Wenn man bedenkt, dass Bosch etwa 79 Milliarden Umsatz macht und demgegenüber ZEISS etwa 7,5 Milliarden und Schott etwa 2,5 Milliarden, sind das unterschiedliche Größenordnungen. Die Liebe zur Innovation und zu echten disruptiven Technologien ist bei ZEISS besonders ausgeprägt. Ein aktuelles, sehr bekanntes und überzeugendes Beispiel für eine disruptive Technologie ist die Kooperation zwischen ZEISS, ASML und Trumpf bei der Einführung der EUV Technologie. Das EUV-Lithographiesystem ist die weltweit fortschrittlichste Ausrüstung für die Massenproduktion von Chips. Bei ZEISS hat man über Jahrzehnte hinweg ein disruptives Technologiethema entwickelt, was nun auch im Markt extrem erfolgreich ist. Das ist sicherlich etwas, was ZEISS an dieser Stelle auszeichnet.
In den Unternehmenskulturen erkenne ich sehr viele Ähnlichkeiten, aber zeitgleich auch viele vergleichbare Herausforderungen. Alle drei Unternehmen befinden sich aktuell in einer digitalen Transformation und befinden sich dabei auf einem sehr guten Weg. Von daher glaube ich – abgesehen von der Größenordnung der Unternehmen selbst – haben die Unternehmen viele Ähnlichkeiten. Sehr unterschiedlich hingegen ist die Position der Unternehmen in der Wertschöpfungskette. SCHOTT als sehr materialorientiertes Unternehmen, ZEISS und SCHOTT als Komponenten und Systemanbieter.
Marco Henry Neumueller: Klimakrise, Corona, Krieg, steigende Energiepreise, Lieferkettenengpässe, … – diese Liste ließe sich nun beliebig fortführen. Wie gehen globale Unternehmen wie ZEISS und SCHOTT mit diesen Herausforderungen um und wie werden sich diese Unternehmen in Zukunft aufstellen müssen?
Michael Bolle: Entscheidend ist hier die Eigenschaft, wie resilient die Unternehmen sind. Eine wesentliche Voraussetzung ist, dass man sich mit möglichen Zukunftsszenarien beschäftigt – dies tun wir sowohl bei ZEISS als auch bei SCHOTT. Diese Szenarien müssen durchdacht werden und für mögliche Szenarien müssen auch Maßnahmen abgeleitet werden, die beim Eintreten eines Szenarios dann auch greifen. Bei der Umsetzung dieser Szenarien sollte man pragmatisch vorgehen, also nicht jahrelanges Analysieren, bevor man etwas tut. Die Krisenszenarien, die wir aktuell erleben – das beginnt mit der Pandemie und reicht bis zum Russlandkrieg gegen die Ukraine aktuell – verlangen ein pragmatisches und kraftvolles Handeln. Hier sind beide Unternehmen meines Erachtens stark unterwegs. Das sieht man auch an den veröffentlichten Geschäftszahlen. Sowohl ZEISS als auch SCHOTT zeichnen sich durch ein starkes Wachstum und profitable Geschäfte aus; und dies auch in den krisenbehafteten Jahren, die wir alle miteinander erlebten oder gerade erleben. Nachgewiesenermaßen sind somit beide Unternehmen resilient. Geopolitische und ökologische Veränderungen werden dazu führen, dass man die etablierten Geschäftsmodelle verändern und anpassen muss. Auch dessen sind sich beide Unternehmen bewusst. Insofern bin ich davon überzeugt, dass die Unternehmen eine gute Ausgangsposition haben.
Wir müssen uns aber auch Gedanken um die Menschen in den Firmen machen. Wie gehen diese mit der Zusatzbelastung in den Krisen um? Die Disruption in den Lieferketten oder die pandemischen Randbedingungen erfordert einen extrem hohen Einsatz und entsprechenden Zusatzaufwand. Um dem zu begegnen sind wir eng an den Mitarbeitern dran. Wir wollen verstehen, wo deren Nöte und Sorgen sind und auch entsprechend gegensteuern. Wichtig ist auch der gute Teamzusammenhalt in den Unternehmen. Das fängt beim Vorstand an und setzt sich durch das Unternehmen hindurch fort. Man ist sich bewusst, dass man nur gemeinsam diese Krisenszenarien bewältigen kann. Die Ergebnisse geben uns bis dato Recht, wir sind auf einem guten Kurs. Mehr noch: Wir sind guter Dinge, dass wir auch in der Zukunft die Unternehmen kraftvoll weiterentwickeln können. Und dies angetrieben durch Innovation und Technologie. Somit werden wir dann auch dem Stifterwillen gerecht.
Marco Henry Neumueller: Wir stellen immer häufiger fest, dass es nicht mehr das Ziel vieler ist, Karriere zu machen. Wenn man sich Ihren Lebenslauf ansieht, haben Sie eine saubere Karriere hingelegt. Welche Herausforderungen sehen Sie auf Deutschland zukommen, wenn tatsächlich immer weniger eine Führungsfunktion als erstrebenswert ansehen sollten und wie können wir gegensteuern?
Michael Bolle: Der Führungsbegriff hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich geändert: Weg vom klassischen Command-and-Control-Ansatz hin zu einem mehr teamorientierteren Ansatz, bei dem die Führungskraft Orientierung geben und motivieren muss. Gleichzeitig muss sie die Teams befähigen, oder empowern, wie man heute gerne sagt. Das ist ein gänzlich anderes Führungsmodell, mit dem aber die Andockpunkte an die Nachwuchsführungskräfte stärker und besser sind. Das bedingt jedoch, dass man die Unternehmenskultur in diese Richtung entwickeln muss.
Ein weiteres Element ist, dass die Flexibilität in der Ausgestaltung des Arbeitsumfeldes drastisch zunehmen wird. Wo ist mein Arbeitsplatz? Wie starr ist das festgelegt? Wie geht das Unternehmen mit „work from home“ um? Schreibt das Unternehmen vor, wann die Kolleginnen und Kollegen im Büro sein müssen? Das sind alles Fragestellungen, die heute sehr viel weicher und offener gestaltet werden. Damit wird man auch die jüngeren Kollegen für Aufgaben begeistern können.
Und last but not least: Der Purpose – oder Sinn dessen was ich tue – wird für Nachwuchsführungskräfte viel wichtiger werden. Sie werden sehr stark hinterfragen, wie ernst ein Unternehmen das Thema nimmt. Kultur, Werte, Sinn – all das wird heute gerne aufgeschrieben, aber wie ernst meint es ein Unternehmen damit wirklich? Werden diese Dinge aktiv in der Unternehmenskultur gelebt? Die jungen Nachwuchsführungskräfte haben meines Erachtens eine sehr gute Antenne dafür, ob es ein Unternehmen damit wirklich ernst meint. Tut man dies und ist dies erlebbar, hat man aber auch deutlich bessere Chancen, die jungen Führungskräfte für sich zu gewinnen, die sich dann auch für das Unternehmen einschätzen.
Sie sehen, ich bin da positiv und optimistisch gestimmt, es setzt aber voraus, dass eine authentische Unternehmenskultur umgesetzt und gelebt wird.
Marco Henry Neumueller: Herr Bolle, ich danke Ihnen für die wertvollen Einblicke.