Dr. Walter Döring war Stv. Ministerpräsident und Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg und ist Geschäftsführender Gesellschafter der Akademie Deutscher Weltmarktführer in Schwäbisch Hall.
Marco Henry Neumueller: 2012 haben Sie die Akademie Deutscher Weltmarktführer gegründet. Was waren damals Ihre Beweggründe?
Walter Döring: Ganz einfach die Einsicht, dass es hier in der Region, aber auch in Baden-Württemberg, enorm viele Weltmarktführer gibt und wir eigentlich zu wenig daraus gemacht haben. Mit zu wenig meine ich konkret, dass wir in der Welt nicht damit geworben haben, was wir hier für sensationelle Unternehmen haben. Dann dachte ich mir, da muss man doch etwas tun.
Marco Henry Neumueller: War Ihnen von Anfang klar, dass Sie damit auch ein „Gipfeltreffen der Weltmarktführer“ in Schwäbisch Hall ausrichten wollen?
Walter Döring: Schwäbisch Hall war für mich immer gesetzt. Ich hätte überhaupt kein Interesse daran gehabt, das Gipfeltreffen in Heilbronn oder in Stuttgart oder wo auch immer auszurichten. Da kommt sicher ein wenig der Lokalpatriot in mir durch. Dann stand die Überlegung an, was man tun kann, um diese Weltmarktführer bekannt zu machen. Wir hatten uns dann einen Kongress überlegt, was zu Beginn aber gar nicht so einfach war. Es gab natürlich einige Stimmen, die ein Gipfeltreffen der Weltmarktführer, gerade in Schwäbisch Hall, in Frage gestellt haben. Aber nachdem es das zweite oder dritte Mal dann stattfand, hat man gesehen, dass es anläuft. Dann war plötzlich jeder dafür. Wie immer. Wenn etwas läuft, ist jeder dann dafür.
Marco Henry Neumueller: Wenn man sich die Besucherzahlen und Referenten der letzten Jahre zu Gemüte führt, könnte man versucht sein, von einem schwäbischen Davos zu sprechen. Welche Pläne haben Sie mit diesem Format für die Zukunft?
Walter Döring: Obwohl es nächstes Jahr das 15. Mal sein wird, dass wir diesen Kongress ausrichten, ist es noch nicht so, dass man sagen könnte, dass es von alleine läuft. Das liegt natürlich auch am Standort. Man muss schon nach Schwäbisch Hall wollen. Wir haben keinen ICE-Anschluss. Wir haben zwar den Würth-Flughafen, aber eben nicht für jeden. Es ist daher jedes Mal eine besondere Herausforderung, den Kongress auszurichten. Das Gute ist, man kennt das Format mittlerweile und man weiß auch, dass das Gipfeltreffen eine Top-Veranstaltung ist. Dennoch muss man dieses hohe Niveau auch halten, sonst bricht alles zusammen. Ich bin recht zuversichtlich, dass wir das Niveau seither halten können. Ich war zwar der Meinung, dass irgendwann das klassische Kongressformat ausgedient haben wird. Aber das stimmt nicht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Ich habe sogar den Eindruck, das Interesse an persönlichen Begegnungen nimmt wieder zu. Auch dass der Kongress über mehrere Tage an unterschiedlichen Standorten stattfindet, sehe ich als Bereicherung. Hier wäre neben der Bausparkasse das neue Globe in Schwäbisch Hall zu nennen oder auch die Abendveranstaltung im Carmen-Würth-Forum mit den Würth Philharmonikern.
Marco Henry Neumueller: Was fasziniert Sie persönlich an Familienunternehmen?
Walter Döring: Was Familienunternehmen auszeichnet, ist, dass sie einen langen Atem haben. Es gibt kein mir bekanntes Familienunternehmen, das in Quartalszahlen denkt. Man gibt sich Zeit, man nimmt sich Zeit, man ist wettbewerbsfähig und wettbewerbsoffen, vor allem aber ist man innovativ. Am Ende ist es eben das eigene Geld. Was ich auch gut finde an Familienunternehmen: Es wird entschieden. Und wenn entschieden ist, wird auch umgesetzt. Das geht dann häufig schneller als in Großkonzernen, in denen es verschiedener Genehmigungsstufen bedarf, bis entschieden oder umgesetzt wird.
Marco Henry Neumueller: Der Mittelstand, das Rückgrat unserer Wirtschaft, wird von der Politik gerade mit Füßen getreten. Viele Mittelständler und Familienunternehmen planen ihre Investitionen der nächsten Jahre außerhalb von Deutschland. Wie sehen Sie als ehemaliger Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg die aktuelle wirtschaftliche Lage?
Walter Döring: Die Politik macht gerade dem Mittelstand und der Wirtschaft insgesamt das Leben unheimlich schwer. Es ist völlig irre, was da teilweise passiert. Nehmen wir das Lieferkettengesetz in der ursprünglichen Form. Das gleicht einem Todesstoß. Jeder spricht ständig von der Notwendigkeit des Bürokratieabbaus. Das Gegenteil geschieht aber. Ein Alarmsignal war mir das Interview von Herrn Nikolas Stihl [Anm.: Beiratsvorsitzender der Stihl AG) vor kurzem. Er sagte, und das muss man sich mal wirklich auf der Zunge zergehen lassen: „Die Schweiz ist für uns günstiger.“ Das bedeutet, dass das Unternehmen vermutlich nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz investieren wird. Und das, obwohl wir immer dachten, die Schweiz sei ein teures Land, da geht doch mit Sicherheit niemand hin. Sondern man geht doch eher irgendwohin nach Asien. Oder mit entsprechenden Subventionen in die USA. Nein, als Wettbewerber taucht jetzt sogar die Schweiz auf. Und was noch viel schlimmer ist: Es sollte ein Alarmsignal sein und ich habe trotzdem keine spürbare politische Reaktion wahrnehmen können. Das hätte ich nicht erwartet, sondern eher das Gegenteil. Wenn ein Familienunternehmen von Weltgeltung mit unglaublicher Standorttreue – und das seit vielen Jahrzehnten – nun sagt, dass die Schweiz als ernstzunehmender Wettbewerber für Standortentscheidungen in Erscheinung tritt, dann ist das ein deutliches Alarmsignal.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch noch Unternehmen, die mehrere hundert Millionen an ihrem Standort investieren. Als Beispiel wäre hier Trumpf zu nennen. Insofern sollte man bei allen richtigen Diskussionen nicht immer nur sehen, wie schlecht alles ist und sich dann einreihen. So wird es garantiert dann nicht besser. Wenn wir einen Blick in meine Region hier werfen, gibt es das Unternehmen OPTIMA, Weltmarktführer im Maschinenbau mit 90% Auslandsanteil. OPTIMA investiert ungeheuer viel am Standort in Schwäbisch Hall. RECARO hat beispielsweise auch während der Coronazeit weiter am Standort investiert. Das sind Entscheidungen, die man bei allem Gerede schon auch berücksichtigen muss.
Dennoch überschattet so ein Interview mit Stihl vieles. Klar gibt es nun auch einige, die in den USA durch IRA (Anm: Inflation Reduction Act) einen gefragten Standort stehen. Wir müssen hierzulande sinkende Energiepreise sehen, auch die Steuer muss angefasst werden, die Bürokratie muss entlastet werden. Und zuletzt sollten wir vor allem auch endlich mal Planungssicherheit haben. Robert Habeck führt aus, dass er es ganz schlimm für die Wirtschaft in Deutschland findet. Christian Lindner stimmt zu und findet es auch ganz furchtbar. Und nun? Die Analyse steht. Nun würde ich mir aber wünschen, dass auch etwas passiert. Ganz zentral für uns wäre, dass wir mit den Handelsabkommen vorankommen. Mit Mercosur kommen wir nicht voran. Mit CETA auch nicht. Gibt es denn ein europäischeres Land außerhalb von Europa als Kanada? Und wir schaffen keinen Abschluss mit Kanada? Da fehlen einem wirklich die Worte.
Marco Henry Neumueller: Weiterhin nehmen wir in den letzten Monaten verstärkt war, dass immer wieder namhafte Unternehmerfamilien ihr Unternehmen teilweise oder ganz in die USA oder nach Asien verkaufen. Erleben wir also gerade einen Ausverkauf in Deutschland? Ist der Standort Deutschland nicht mehr attraktiv?
Walter Döring: In Ihrer Frage stecken ja eigentlich zwei zentrale Fragen. Der Standort Deutschland ist momentan mich Sicherheit nicht sonderlich attraktiv. Einen Ausverkauf sehe ich jedoch nicht. Es gibt zahlreiche Familienunternehmen, die sich eindeutig zum Standort Deutschland bekennen und das Unternehmen in der Familie halten wollen, zur Not mit einem Fremdmanager an der Spitze. Das ist ein klares Bekenntnis zum Familienunternehmen. Das ist natürlich noch nicht gleich ein Bekenntnis zum Standort. Das muss man klar unterscheiden. Das ist schon richtig. Aber nehmen Sie mal ein Beispiel wie Herrenknecht, der erst jüngst ein großes Interview in der Presse gegeben hat, in dem er der Politik zurecht auch einige Vorwürfe macht. Auch der Standort Deutschland wird dabei heftig kritisiert. Er sagt jedoch auch klar, dass er solange wie möglich weitermachen wird und dann geht das Unternehmen an seinen Sohn über. Martin Herrenknecht führt auch aus, dass die Chinesen ständig versuchen würden, ihn zu kaufen. Er sagt darauf aber ganz klar: „Mich kauft keiner. Ich bin Familienunternehmer und bleibe das auch.“ Insofern würde ich Ihrer These des Ausverkaufs widersprechen.
Marco Henry Neumueller: Deutschland wird in den Medien zunehmend als Bremsklotz oder kranker Mann Europas wahrgenommen? Auch liest man, dass Europa ohne Deutschland bereits wachsen könnte. Wie ist Ihre persönliche Meinung hierzu?
Walter Döring: Auch wenn man über den Altkanzler Schröder derzeit nicht mehr allzu viele positiven Kommentare liest, so würde ich mich schon freuen, wenn wir wieder einmal etwas wie eine Agenda 2010 sehen würden. Seine Reformen waren vergleichbar mit einem Rettungsanker für Deutschland. Viele Entscheidungen waren für Angela Merkel geradezu ideal. Bedauerlicherweise hat sie manches davon zurückgedreht. Aber wie profitierten über lange Zeit von Gerhard Schröder. Er hat damals, als man vom kranken Mann Europas sprach, klar gesagt: „Dann müssen wir jetzt Reformen machen.“ Und hat sie dann auch durchgezogen. Auch mit dem Risiko des Amtsverlusts. Ich wünschte mir, dass es nun einen Olaf Scholz, einen Christian Lindner oder einen Robert Habeck gäbe, die sagen „Wir sind noch nicht ganz, aber auf dem besten Weg Gefahr zu laufen, wieder der kranke Mann Europas zu werden. Also müssen wir jetzt handeln, wie seinerzeit Gerhard Schröder.“ Dies sehe ich aber aktuell nicht. Ich sehe eher ein gegenseitiges Behindern.
Was ich auch schwierig finde, und da warne ich entschieden davor, dass man jeden Tag in den Medien lesen kann, wie schlecht wir sind. Das finde ich absolut nicht gut. Hier muss man auch mal dagegenhalten. Ein 39-jähriger deutscher Ökonom (Anm: Philipp Stack) hat jüngst den „Junior-Nobelpreis“ gewonnen. So etwas ist doch fantastisch. Auf der anderen Seite haben wir hohe Investitionen in Deutschland von ausländischen Unternehmen. Natürlich deutlich subventioniert. Aber wer macht das nicht? USA subventioniert, China subventioniert, auch Frankreich subventioniert. Bei aller Kritik an Subventionen gibt es doch ein paar sehr vorzeigbare Standortentscheidungen pro Deutschland. Und das in einem knallharten internationalen und europäischen Wettbewerb.
Aber klar, lassen wir alles so weiterlaufen, dann werden wir möglicherweise der schwerkranke Mann Europas. Davor muss man warnen.
Marco Henry Neumueller: Sie haben gerade jüngst Ihren 70. Geburtstag gefeiert und sind immer noch sehr umtriebig. Gibt es noch irgendeinen Traum in Ihrem Leben, den Sie sich erfüllen wollen?
Walter Döring: Ich bin tatsächlich gerade dabei, mir einen Traum zu erfüllen (lacht). Nämlich das Gipfeltreffen der Weltmarktführer noch weiter zu internationalisieren. Wie gesagt, im nächsten Jahr findet in Deutschland das 15. Gipfeltreffen der Weltmarktführer in Schwäbisch Hall statt. Im Mai dieses Jahres das erste internationale Gipfeltreffen in Peking. Das ist schon eine tolle Sache. Wenn ich dann beide Formate so aufgesetzt habe, dass sie nachhaltig und zukunftssicher sind, dann ist ein beruflicher Traum tatsächlich erfüllt. Und nun ein persönlicher. Ich wünsche mir dann danach Zeit. Noch mehr Zeit, um so viel wie möglich lesen zu können. Ich lese unheimlich gerne. Ich lese gerade aktuell die neueste Martin-Luther-King-Biografie. Sensationell. Oder, was völlig verrückt ist: Ich lese gerade Krieg und Frieden von Tolstoi. Das hat über 1.500 Seiten. Wahrscheinlich müsste man das heute nicht mehr lesen (lacht). Aber es interessiert mich einfach; und deswegen lese ich es. Und ansonsten wünscht man sich, dass wenn man 70 geworden ist, auch die 80 erreicht.
Marco Henry Neumueller: Herr Döring, ich danke Ihnen für dieses offene Gespräch.