Ungefähr 90 Prozent der Unternehmen in Deutschland sind Familienunternehmen, welche etwa 50 Prozent zum Gesamtumsatz in Deutschland beitragen. So ist es schon eine traurige Erkenntnis, die im Laufe der Jahre in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung reifte: Ein Familienunternehmen scheitert letztlich in seltenen Fällen am Markt, sondern in den meisten Fällen an der Familie selbst. Schon in dem 1901 erschienenen Werk »Buddenbrooks« von Thomas Mann findet sich die im Volksmund häufig kolportierte Triade
„Der Vater erstellt’s,
der Sohn erhält’s,
dem Enkel zerfällt’s.“,
deren Relevanz jeder für sich selbst in der Realität überprüfen mag. In den 1980er Jahren untersuchte Ward (2011) erstmals systematisch die Nachfolge in Familienunternehmen. Diese und weitere Studien gelangten zu der Erkenntnis, dass nicht einmal zwei Drittel der Familienunternehmen die zweite Generation überleben, wohingegen lediglich etwa ein Drittel die dritte Generation überdauern. Die vierte Generation erreichen je nach Studie lediglich zehn bis 15 Prozent. Dem Wechselspiel der Kräfte von Macht, Geld und Liebe kann selbst die stärkste Familie erliegen. Vorrangiges Ziel bei einem Familienunternehmen ist fast immer der Erhalt und Verbleib des Unternehmens in der Familie – nicht zuletzt auch, um die Existenz der Eigentümerfamilie sowie im besten Fall zukünftiger Generationen zu sichern.
Was könnte diese Existenz gefährden? »Der größte Wertvernichter in Familienunternehmen ist der Streit.« Gründe für Streit finden sich ständig. Sei es, dass zwischen dem Sohn und der Tochter ein interner Konkurrenzkampf um die Unternehmensnachfolge und damit um die Gunst des Vaters ausbricht – wobei grundsätzlich zu klären wäre, ob einer der beiden überhaupt objektiv für die Nachfolge geeignet erscheint –, oder dass ein Gesellschafter dem Unternehmen den Rücken kehrt und das Unternehmen durch die Auszahlung seiner Gesellschaftsanteile in eine existenziell bedrohliche Lage bringt. Es gehört zu den nicht ganz einfachen täglichen Herausforderungen von Familienunternehmern, den Spagat zwischen Familie und Unternehmen zu meistern. Wo immer mehr Menschen mit teils unterschiedlichen Intentionen aufeinandertreffen, steigt die Komplexität zwangsläufig. Die angesprochene Komplexität umfasst im Wesentlichen drei Konstellationen: Unternehmen versus Familie, Gemeinschaft versus Individuum und ältere Generation versus jüngere Generation.Hier setzt die Familienverfassung an und will als »[g]roße Klammer« zwischen den Generationen und dem Unternehmen gesehen werden.
So ist dieser Spagat zwischen Familie und Unternehmen am wahrscheinlichsten mit von allen akzeptierten Spielregeln zu meistern. Eine Familienverfassung möchte Leitlinien – und meint damit Strategie, Struktur und Spielregeln – sowohl für die Familie als auch im Hinblick auf das gemeinsame Unternehmen aufstellen. Dabei schafft die Familienverfassung Transparenz, erhöht die Sicherheit für jeden einzelnen und professionalisiert die Zusammenarbeit. Sie möchte als Instrument zur Streitvermeidung verstanden werden, das einen »grundlegenden Wertekonsens in zentralen Fragen rund um das Verhältnis zwischen Familie und Unternehmen unter den Beteiligten herstellt.« Die Verbreitung der Familienverfassung in Deutschland steht allerdings erst am Anfang. In Ermangelung fundierter empirischer Untersuchungen darüber, in wie vielen Familienunternehmen tatsächlich eine Familienverfassung existiert, lässt sich diese Frage nicht präzise genug beantworten. Eine im Jahre 2011 durchgeführte stichprobenartige Befragung von 148 Inhabern deutscher Familienunternehmen ergab zumindest eine erste Tendenz: Etwa ein Viertel der befragten Unternehmen haben eine Familienverfassung. Immerhin zirka 50 Prozent der Unternehmen, die zu diesem Zeitpunkt keine hatten, zogen ernsthaft in Erwägung, in naher Zukunft ein solches Regelwerk erstellen zu wollen. Der Mehrwert einer Familienverfassung im Sinne eines positiven Einflusses auf die Gesamtsituation innerhalb der Unternehmerfamilie soll in dieser vorliegenden Arbeit vorausgesetzt werden. Die vorgenannte Studie gibt auch dazu eine erste Indikation. Die Nutzer einer Familienverfassung sehen ihre Erwartungen an diese in der Praxis in hohem Maße erfüllt: sowohl in emotionaler als auch in ökonomischer Hinsicht. So wird auch in der Literatur die positive Wirkung einer Familienverfassung nicht in Frage gestellt.
Wenngleich dieser Mehrwert einer Familienverfassung ganz grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird, so lässt sich dennoch feststellen, dass die Grundlage für die Entfaltung ihrer positiven Eigenschaften häufig zu kontroversen Diskussionen führt, die nicht selten in Ausführungen zur rechtlichen Bindungswirkung eines solchen Instruments münden. In diesem Zusammenhang mahnt Gläßer (2014) zu Recht an, die Betrachtung der »Leistungsfähigkeit« einer Familienverfassung nicht immer nur in Verbindung mit der materiellen Bindungswirkung der Inhalte zu sehen, sondern vielmehr deren »prozedurale Wirkung« näher zu untersuchen. Dies spricht bereits für die Relevanz dieser Arbeit. Familienverfassungen haben trotz ihrer praktischen Relevanz bislang noch keine vertiefte wissenschaftliche Betrachtung erfahren. Die Literatur scheint vielmehr durch die Beraterpraxis geprägt zu sein. Die spärlich vorhandene Literatur zu Familienverfassungen handelt zumeist lediglich von den Inhalten und der Herangehensweise zur Erstellung einer solchen. Das Fehlen einer wissenschaftlichen Untersuchung, die jene Maßnahmen beleuchtet, die die Wahrscheinlichkeit der Regelbefolgung durch die Familienmitglieder erhöhen, spricht für die Dringlichkeit einer solchen nun veröffentlichten Forschungsarbeit und damit für deren
wissenschaftliche Relevanz.
Es lässt sich festhalten, dass der Mehrwert einer Familienverfassung für die Familie und damit auch für den langfristigen Fortbestand des Unternehmens von besonderer Bedeutung ist und somit geeignete Maßnahmen ergriffen werden sollten, um sicherzustellen, dass die aufgestellten Regeln stets auch möglichst von allen befolgt werden (»Family Compliance«).
Es herrscht überwiegend Einigkeit darüber, dass dieses Regelsystem keinen rechtsverbindlichen Charakter haben soll, sondern vielmehr als moralisch verbindlich gelten soll. Umso mehr stellen sich jedoch Unternehmerfamilien die Frage, von welchen Determinanten es abhängt, ob die in einer Familienverfassung festgelegten Spielregeln auch von allen Familienmitgliedern befolgt werden. Hier setzt die Forschungsarbeit an und zeigt konkrete präventive und reaktive Maßnahmen auf und gibt damit Unternehmerfamilien konkrete Handlungsempfehlungen an die Hand.
Der Autor
Dr. Marco Henry Neumueller, der Gründer und Autor von „FAMILIENUNTERNEHMEN im FOKUS“, studierte Elektrotechnik und Informationstechnik an der Universität Stuttgart, parallel dazu Rechtswissenschaften an der FU Hagen . Es folgten Master-Abschlüsse in Wirtschaftsrecht und General Management mit Aufenthalten in den USA, in Großbritannien, Schweden, Japan und Südkorea. Als Stipendiat der Stiftung Familienunternehmen sowie der EQUA-Stiftung wurde er 2019 an der Universität Witten/Herdecke promoviert. Derzeit ist er für eine führende internationale Personalberatung in Frankfurt tätig und berät schwerpunktmäßig Familienunternehmen.