Dr. Marco Henry Neumueller mit Dr. Susanne Herre (IHK Region Stuttgart)

FiFo Talk mit Dr. Susanne Herre über Standortstärken, Strukturwandel und Zukunftschancen in der Region Stuttgart

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Dr. Susanne Herre Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart

Marco Henry Neumueller:  Sie sind nun seit gut drei Jahren im Amt. Was hat Sie in dieser Zeit in Ihrer Position am meisten überrascht oder beeindruckt? Gab es Begegnungen mit Unternehmerinnen und Unternehmern in der Region, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Susanne Herre: Eine große Überraschung gab es nicht, da ich die IHK nach über 25 Jahren sehr gut kenne. Dennoch ist die Rolle der Hauptgeschäftsführerin etwas völlig anderes, als sie nur von außen zu betrachten. Besonders prägend waren die vielen Begegnungen mit Unternehmerinnen und Unternehmern: Menschen, die mit großem Engagement für ihre Produkte und Dienstleistungen brennen und gleichzeitig enorme Verantwortung für ihre Beschäftigten übernehmen. Diese Nähe hat meinen Respekt noch einmal deutlich vertieft.

Unvergessen sind Gespräche mit Persönlichkeiten der älteren Generation – etwa mit einem ehemaligen CEO von Bosch – ebenso wie die Energie junger Start-ups, die heute in Bereichen wie Quantensensorik aktiv sind. Diese Spannweite zwischen Tradition und Zukunft macht meine Aufgabe besonders spannend und ist für mich eine einmalige Gelegenheit, unterschiedliche Wertegerüste und Innovationsansätze hautnah zu erleben.

Marco Henry Neumueller:   Stuttgart gilt als einer der führenden Wirtschaftsstandorte in Europa, mit globalen Konzernen und einem starken Mittelstand. Wo sehen Sie die größten Stärken der Region Stuttgart als Wirtschaftsstandort, und welche Herausforderungen kommen aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren auf die regionale Wirtschaft zu?

Susanne Herre: Unsere größte Stärke sind die Menschen: 1,5 Millionen Beschäftigte, davon fast 90 % mit qualifiziertem Berufsabschluss – das ist im internationalen Vergleich außergewöhnlich. Diese „Kraft der Köpfe“ wird getragen von Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften und trifft hier auf einen einzigartigen Mix aus Mittelstand und Großunternehmen. Branchenprägend sind Automobil und Maschinenbau; zugleich entstehen enorme Chancen in Luft- und Raumfahrt sowie in der Künstlichen Intelligenz – etwa mit Initiativen wie dem IPAI oder dem Cyber Valley. Genau diese Kombination aus Qualifikation, Branchenmix und Forschung macht unseren Standort stark und zukunftsfähig.

Die Kehrseite: Unsere hohe Abhängigkeit vom Automobil. Rund 17 % der Beschäftigten arbeiten in der Kernautomobilindustrie – plus erhebliche Anteile in verbundenen Dienstleistungen. Der Technologiewechsel vom Verbrenner hin zu neuen Antrieben ist kein „Auf und Ab“, sondern ein echter Strukturwandel, der dauerhaft Arbeitsplätze kostet. Das spürt inzwischen auch die Stadt Stuttgart, etwa beim Gewerbesteueraufkommen. Hinzu kommt unsere starke Exportorientierung: Geopolitik, Handelspolitik, Zölle – insbesondere im Verhältnis zu USA und China – wirken massiv auf die Unternehmen. Chancen sind da, aber der Wind ist rauer geworden.

Marco Henry Neumueller:  Die letzten Jahre waren von vielfältigen Krisen geprägt – von der Pandemie bis zur Energiekrise – die auch die hiesige Wirtschaft auf die Probe gestellt haben. Wie würden Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage in der Region beschreiben, und wie gehen die Unternehmen hier mit diesen Unsicherheiten um?

Susanne Herre: Kurz gesagt: schwierig. Unsere jüngste Konjunkturumfrage zeigt eine historisch schlechte Gemengelage bei Lageeinschätzung und Erwartungen. Besonders die Industrie schwächelt – vor allem an der Inlandsnachfrage –, aber auch Handel und Gastronomie tun sich schwer. Gleichzeitig habe ich in den letzten Wochen wieder Anzeichen von Hoffnung gehört: Teile des Handels blicken zuversichtlich aufs Weihnachtsgeschäft; die Samstage im Advent laufen gut. Und ein großes Maschinenbauunternehmen berichtet, dass die Aufträge wieder anziehen – mit anderen Erwartungshaltungen als nach früheren Krisen, aber doch erkennbar positiv. Das nährt die Hoffnung, dass 2026 zumindest ein kleines Wachstum möglich ist. Insgesamt bleibt die Lage jedoch angespannt.

Was jetzt helfen würde? Ein spürbarer Bürokratieabbau – schnell, wirksam, ohne große Kosten. Daneben belasten hohe Energiepreise, ein insgesamt hohes Steuerniveau und hohe Lohnkosten. In kostenintensiven Bereichen sehen wir Verlagerungen ins Ausland – Arbeitsplätze, die dann oft nicht zurückkehren. Selbst sehr standorttreue Unternehmen müssen Projekte umplanen: Statt eines repräsentativen Kundencenters entsteht dann eben nur ein Parkplatz. Solange die Kostenlage bleibt wie sie ist und die Konjunktur schwächelt, wird sich das nicht kurzfristig ändern.

Marco Henry Neumueller:  Stichwort Standortpolitik: Der Wettbewerb zwischen Wirtschaftsregionen wird immer intensiver. Welche strategischen Schwerpunkte sollte die Region Stuttgart aus Ihrer Sicht setzen, um auch künftig ein führender Wirtschaftsstandort zu bleiben, und welche Maßnahmen – sei es von Seiten der Politik oder der Wirtschaft – sind dabei besonders dringend?

Susanne Herre: Wir brauchen einen „Mix der Ebenen“ – von der EU über Bund und Land bis zu den Kommunen. Grundsätzlich gilt: weniger Bürokratie, weniger Abgaben, mehr Freiheitsgrade und Technologieoffenheit. Konkret auf regionaler Ebene sind drei Punkte zentral: erstens Infrastruktur – insbesondere Verkehr und Anbindung; zweitens Flächenverfügbarkeit – ein Engpass in der Region; drittens ein spürbar wirtschaftsfreundliches Klima in den Behörden. Eine funktionierende Baurechtsbehörde kann über Investitionen entscheiden, genauso wie eine leistungsfähige Ausländerbehörde über die Geschwindigkeit, mit der Unternehmen internationale Fachkräfte einstellen können. In unseren Standortumfragen stehen diese Faktoren ganz oben bei „dringlich und wichtig“ – die Zufriedenheit ist aber nur mäßig. Hier können Kommunen aus eigener Kraft besser werden, ohne auf Brüssel, Berlin oder Stuttgart (Land) zu warten. Gleichzeitig sind die Betriebe selbst gefragt: Innovationsmut, der produktive Einsatz von KI und – ganz wichtig – Qualifizierung, damit Teams in der aktuellen Technologiesprungdynamik mithalten.

Marco Henry Neumueller:  Familienunternehmen prägen die Wirtschaftsstruktur der Region, viele von ihnen sind als „Hidden Champions“ Weltmarktführer und dennoch oft kaum bekannt. Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Familienbetriebe für die regionale Wirtschaft ein?

Susanne Herre: Sie sind das Rückgrat unserer Wirtschaft. Familiengeführte Mittelständler sind agiler und beweglicher als große Konzerne, reagieren schneller – und sie fühlen sich ihrem Standort und den Familien ihrer Beschäftigten besonders verpflichtet. Diese Verwurzelung spüren wir jeden Tag. Gerade in Krisenzeiten sind Familienunternehmerinnen und -unternehmer wichtige Stimmen der Vernunft – glaubwürdig, nahbar, orientierend. Und natürlich stellen sie die überwiegende Zahl der Arbeitsplätze – auch ökonomisch sind sie also von zentraler Bedeutung.

Marco Henry Neumueller:  Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie aktuell für Familienunternehmen – zum Beispiel in der digitalen Transformation, bei der Suche nach Fachkräften oder im Generationswechsel – und wie können Institutionen wie die IHK oder die Politik diese Unternehmen dabei unterstützen?

Susanne Herre: Erstens: Bürokratie. Sie ist eines der größten Probleme – und trifft kleine und mittlere Betriebe überproportional, weil ihnen die internen Strukturen fehlen. Ein Handelsunternehmen sagte mir kürzlich: „Wir bräuchten eigentlich zwei Vollzeitstellen – nur für Bürokratie.“ Das ist für einen Mittelständler immens. Zweitens: Nachfolge. Gründungen gehen zurück, und in vielen Fällen lässt sich die familieninterne Übergabe nicht mehr selbstverständlich sichern; externe Nachfolgerinnen oder Nachfolger sind schwer zu finden. Demografisch spitzt sich das zu: Mit den Babyboomern, die in Rente gehen, wird die Frage „Was passiert mit meinem Unternehmen?“ vielerorts akut. Drittens: veränderte Erwartungen jüngerer Generationen – mehr Wunsch nach Freizeit und Flexibilität –, was die Entscheidung für die Unternehmerlaufbahn nicht einfacher macht.

Ein sensibles Thema ist zudem die Erbschaftsteuer bei Betriebsübergaben. Aus meiner Sicht kommt die jüngste Debatte über mögliche Verschärfungen zur Unzeit. Vor rund 10–15 Jahren wurde hart gerungen – am Ende stand eine tragfähige Regelung, die heute gilt und steuerlich existenzgefährdende Situationen bei Übergaben weitgehend vermeidet. Daran sollte man nicht leichtfertig rühren; andernfalls drohen den Familienunternehmen am Standort neue, massive Probleme genau in dem Moment, in dem wir stabile Nachfolgen am dringendsten brauchen.

Marco Henry Neumueller: Ganz herzlichen Dank für diesen Austausch.