Dr. Marco Henry Neumueller mit Philip Alexander Paschen (Familienunternehmen Witzenmann)

FiFo Talk mit Philip Alexander Paschen über 170 Jahre Innovation, Digitalisierung und Unternehmenskultur

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Philip Alexander Paschen ist Geschäftsführender Gesellschafter der Witzenmann Group in Pforzheim.

Marco Henry Neumueller: Das Unternehmen Witzenmann feiert in diesem Jahr sein 170-jähriges Bestehen. Wo liegen die Ursprünge und wie hat es Witzenmann geschafft, so lange zu überleben? Die meisten Unternehmen überleben kaum die 3. Generation.

Philip Alexander Paschen: Das stimmt. Nur etwa zwei Prozent der Unternehmen in Deutschland sind älter als 100 Jahre. Das hat mich auch überrascht, als ich das kürzlich in der Presse gelesen habe. Darüber hinaus habe ich herausgefunden, dass nur jedes siebte börsennotierte Unternehmen älter als 30 Jahre ist, das Durchschnittsalter liegt bei 14 Jahren. Das zeigt, wie bemerkenswert es ist, dass Witzenmann schon so lange besteht.

Unsere Ursprünge reichen bis ins Jahr 1854 zurück, als wir als Industrieunternehmen gegründet wurden. Davor waren wir ein Schmuckunternehmen. Heinrich Witzenmann, unser Gründer, war ursprünglich Schmuckkettenhersteller. Das Prinzip der Schmuckkette wurde auf Industrieschläuche übertragen, was zu einem revolutionären neuen Produkt führte. Interessanterweise war Heinrich Witzenmann bereits knapp 50 Jahre alt, als er das Unternehmen gründete. Es ist also nie zu spät, um Großes zu beginnen.

Pforzheim, wo wir ansässig sind, ist die Wiege der Schmuckindustrie in Baden-Württemberg und wird daher auch Goldstadt genannt. Viele Unternehmen, einschließlich der lokalen Sparkasse zur Unterstützung der Schmuck- und Uhrenindustrie, haben hier ihre Wurzeln. Wir haben die Transformation vom Schmuck zur Industrie aber schon sehr früh vollzogen. Ein wichtiger Faktor für unseren Erfolg ist, dass wir im Familienbesitz geblieben sind. 98 Prozent des Unternehmens gehören der Familie, die restlichen Anteile einer kleinen Non-Profit-Stiftung. Wir haben auch nie Finanzinvestoren an Bord genommen.

Unser Hauptprodukt, der Metallschlauch und seine Derivate, hat eine breite Anwendungspalette, die von Autos über Lkw, Schiffe, Flugzeuge bis hin zur Chipindustrie und Elektrolyseuren reicht. Diese Diversifizierung verleiht uns eine große Resilienz. Ab den 1990er Jahren haben wir uns sehr stark internationalisiert und haben heute 21 Tochtergesellschaften in 17 verschiedenen Ländern. Das hilft uns, Krisen zu bewältigen, da wir nie komplett von einem Markt, einer Branche, oder einem Produkt abhängig sind.

Ein weiterer, sehr positiver Faktor ist unsere skandalfreie Geschichte. Wir sind stets ein guter „Corporate Citizen“ gewesen, und die Familie war immer wieder öffentlich im Gemeinwesen oder Ehrenamt engagiert. Beispielsweise haben wir bei der Hochschule Pforzheim den technischen Studiengang mitbegründet, und der Audimax trägt daher zu Recht den Namen „Walter-Witzenmann-Hörsaal“. Dieses Engagement in der Gemeinschaft ist Teil unseres Selbstverständnisses und hilft uns, Mitarbeiter lange für unser Unternehmen zu begeistern. Die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit bei Witzenmann liegt bei 14 Jahren, aber viele Kolleginnen und Kollegen sind 20, 30 oder sogar 40 Jahre bei uns. Diese Erfahrung und Loyalität ist unschätzbar, besonders jetzt, wenn es um die Bewältigung der aktuellen Transformationen geht.

Zusammengefasst: Wir sind ein resilientes Unternehmen im Familienbesitz mit einer treuen Stammbelegschaft und einer langen Tradition skandalfreier Unternehmensführung.

Marco Henry Neumueller: Familienunternehmen zeichnen sich in der Regel durch eine besondere Kultur aus. Wie würdest Du die Kultur bei Witzenmann beschreiben und wie stellt Ihr sicher, dass die Werte auch gelebt werden?

Philip Alexander Paschen: Bei uns sind Wertschätzung, Verantwortung, Innovationsgeist, Unabhängigkeit und gesellschaftliche Verantwortung die zentralen Unternehmenswerte. Werte, die in vielen gut geführten und grundsoliden Familienunternehmen so, oder so ähnlich, gelebt werden – zum Glück!

Unsere Unternehmenskultur ist sehr stabil, freundlich und mitarbeiterorientiert. Wir denken langfristig, in Jahrzehnten, setzen auf langfristige geschäftliche Beziehungen und suchen immer nach der fairen Lösung. „Hire and Fire“ gibt es bei uns nicht. Die Fluktuation liegt bei uns dauerhaft zwischen 1-2%. Diese Beständigkeit und Berechenbarkeit schätzen unsere Mitarbeiter auch sehr.

Um sicherzustellen, dass unsere Werte gelebt werden, ist „Walk the Talk“ entscheidend. Führungskräfte werden immer fein beobachtet. Wie sie sich in der täglichen Praxis verhalten, vor allem in den kleinen Dingen, wird von den Mitarbeitern sehr genau registriert. Unsere CHRO hat vor drei Jahren ein gruppenweites, wirklich tolles Programm („Witzenmann Empower“) aufgegleist, dass alle unsere 600 Führungskräfte weltweit auf das Thema der transformationalen, wertschätzenden Führung schult und dafür sensibilisiert. Für neue Führungskräfte haben wir zudem ein Programm aufgelegt, das Selbstreflektion, Wirkung auf andere und Empathie gegenüber Kolleginnen und Kollegen fördert („WI-Lead“).

Ein drittes, wichtiges Werkzeug sind unsere „Culture Checks“, bei denen Mitarbeiter ihre Führungskräfte anonym bewerten können. Dies fördert ehrliches Feedback und zeigt, ob die Führungskräfte die Unternehmenswerte tatsächlich leben. Das gilt selbstverständlich und ganz besonders auch für die Geschäftsführung! Es ist ganz entscheidend, dass wir selbst unsere Werte vorleben und ein feines Sensorium dafür entwickeln, wenn Führungskräfte wie auch Mitarbeiter unsere Werte nicht ausreichend leben. Sonst verlieren unsere Werte ja ihre Bedeutung.

Marco Henry Neumueller: Ein Unternehmen mit einer so langen Tradition kann nur durch ständige Transformation und Anpassung überleben. Welchen Herausforderungen sieht sich Witzenmann in den nächsten Jahren gegenüber?

Philip Alexander Paschen: Die erste und tiefgreifendste Transformation ist die Veränderung im Technologiebereich hin zu energieeffizienteren, kälteren und dekarbonisierten Prozessen, erneuerbaren Energien und in Richtung einer sich abzeichnenden Wasserstoffwirtschaft. Das betrifft uns sowohl im Industrie- als auch im Automotive-Geschäft. Hier sind aber die Einführungszeiträume und Eintrittswahrscheinlichkeiten sehr unterschiedlich. Die Realisierung einer globalen industriellen Wasserstoffwirtschaft z. B. liegt auf einem deutlich anderen Zeitstrahl als die Einführung erneuerbarer Energien. Bei Verbrennungsmotoren spielen bspw. Regionalität und Gesetzgebung eine wesentliche Rolle. Und diese sind je nach Region oft sehr unterschiedlich. In der Fläche wird der Verbrenner noch eine ganze Weile fahren. In chinesischen Großstädten hat er heute schon Einfahrverbot. In urbanen Gebieten kommen sinnvollerweise die Stromer zum Einsatz. In der Fläche künftig eher die Brennstoffzelle, oder der Wasserstoffmotor. Auch E-Fuels könnten einen kleinen Beitrag zur klimaneutralen Mobilität beisteuern. Aber den Diesel werden wir hier noch eine ganze Weile sehen. Als Zulieferer sind wir daher sehr gut beraten, technologieoffen bei der Entwicklung aller Antriebsformen mitzumischen – und das tun wir auch erfolgreich!

Die Digitalisierung ist die zweite Transformation, bei der wir voll mit dabei sein müssen und es auch sind. Wir müssen zu Kunden und Lieferanten anschlussfähig bleiben, intern technische Schulden abbauen, neue IT-Technologien erfolgreich in nahezu allen Bereichen des Unternehmens integrieren, Geschäftsmodelle digital erweitern und neue digital gestützte Geschäftsmodelle entwickeln und zu guter Letzt Cybersicherheit bieten. Dafür haben wir 2018 bereits eine umfangreiche Digitalstrategie bis zum Jahr 2025 aufgesetzt. Das hat uns sehr stark vorangebracht. 2019 haben wir ein eigenes Digital.Labor als „Treibhaus für digitale Innovation“ auf unserem Campus aus der Taufe gehoben – mein ganzer Stolz, denn hier kann man täglich zusehen, wie die Kollegen und Kolleginnen die Digitale Transformation mit größter Begeisterung vorantreiben. 

Die dritte Transformation ist die Kulturelle Transformation. Der demografische Wandel, der Renteneintritt der hart arbeitenden Babyboomer Generation und das veränderte Mindset der jüngeren Generation stellen ebenfalls Herausforderungen dar. Die jüngere Generation hat andere Erwartungen an Arbeitswelt und Sinnstiftung und ist in vielen Dingen sehr, sehr reflektiert. Das hat bei uns zu vielen Innovationen geführt, wie z. B. den oben genannten HR-Programmen. Wir haben aber auch ein cooles „Living-Lab“ auf dem Campus, in dem wir uns mit New Office und New Work Konzepten befassen. In der Führung haben die Themen Wertschätzung und psychologische Sicherheit enorm an Bedeutung gewonnen. Ich bin den jungen Leuten dafür echt dankbar. Heute kann auch ein Geschäftsführer mal einen Tag Home Office machen und zu Hause mit anpacken. Das wäre doch noch vor 10 Jahren völlig undenkbar gewesen.

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Digital.Labor von Witzenmann

Und zu guter Letzt: Witzenmann baut ein neues Stammhaus in Pforzheim. Am 4. April hatten wir den Spatenstich für eine neue Produktionshalle mit 23.000m² Fläche. Dieses Bauprojekt ist Startpunkt einer umfassenden Transformation unseres Headquarters. Auch hier erfinden wir uns neu.  

Die Bürokratie in Deutschland stellt eine weitere, echt unangenehme Hürde dar, die keine Wertschöpfung und keinen Wettbewerbsvorteil hervorbringt. Das muss so deutlich gesagt werden. Die Berichtspflichten sind überbordend, detailverliebt und gerne widersprüchlich. Es ist mir einfach ein Rätsel, wer etwas davon hat, wenn ein mittelständisches Unternehmen z. B. im Rahmen des ESG-Reportings Tausende von Datenpunkten an den Gesetzgeber reportet. „Überwachen durch Aufschreiben – mit erhobenem Zeigefinger“ würde ich das einmal nennen.

Klar ist auch, dass es geopolitisch ungemütlicher wird. Als sehr international aufgestelltes Unternehmen müssen wir hier immer mehr Energie aufwenden und ganz genau hinschauen, uns vorbereiten und reagieren, z. B. auf Sanktionsregimes, die den globalen Handel meist negativ beeinflussen. Hier schränkt die sich abzeichnende Blockbildung den Freihandel tendenziell ein. Für uns als Exportland keine gute Nachricht. 

Marco Henry Neumueller: Digitalisierung ist in aller Munde und als Chief Digital Officer auch Teil Deines Aufgabengebietes im Unternehmen. Wie sieht die Digitale Strategie von Witzenmann aus?

Philip Alexander Paschen: Wir alle wollen Witzenmann zum Gewinner der Digitalen Transformation machen – das ist die Vision unserer Digitalstrategie. Und das ist absolut möglich, weil es in jedem Bereich des Unternehmens Chancen der Digitalen Transformation gibt, die wir ergreifen können. Die Digitale Transformation führt bei uns zu mehr Transparenz, mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Profitabilität, zieht neue Talente an und verändert zunehmend unsere Geschäftsmodelle.

Im Digitalen Zukunftsbild unseres Unternehmens haben wir sechs digitale Nordsterne und vier dezidierte Roadmaps aufgelegt, die uns dorthin führen werden. Darunter liegt ein straffes Projektmanagement, um nachhaltig am Thema dranzubleiben. Um die Digitale Kultur im Haus voranzutreiben, haben wir zudem ein digitales Change Programm aufgelegt. Hier beteiligen wir in verschiedensten Formaten und mit unterschiedlichsten Tools unsere Belegschaft an der Digitalen Transformation des Unternehmens. So richten wir jedes Jahr ein Digital.Forum aus, haben motivierte Mitarbeiter als Digitalbotschafter im Feld und bieten z. B. niederschwellige Seminare zum Thema Künstliche Intelligenz uvm. an.

Marco Henry Neumueller: Mit dem Digital.Lab fördert Ihr vermutlich bewusst Intrapreneurship. Was war die Initialzündung für die Gründung des eigenen Labs und von welchen positiven Entwicklungen kannst Du berichten?

Philip Alexander Paschen: Das Digital.Lab entstand aus dem Bedürfnis, die Digitalisierung im Unternehmen erlebbar zu machen und Begeisterung für die Digitale Transformation zu wecken. Wir haben es 2019 gegründet und seitdem kontinuierlich in Technologie und die Mitarbeiter investiert. Das Digital.Labor spielt eine ganz zentrale Rolle dabei, Ängste ggü. der Digitalen Transformation abzubauen, Neugier zu wecken und zum Mitgestalten einzuladen. Im Lab können die Mitarbeiter selbst neue Technologien anschauen und in einem sicheren Umfeld ausprobieren.

Erfolgsgeschichten aus dem Lab sind, um nur ein paar zu nennen, die Etablierung des 3D-Drucks im ganzen Haus, der uns jährlich rund 500.000 € einspart, die Entwicklung unseres Wlnspectors, der KI-gestützt Vollständigkeitsprüfungen in der Fertigung durchführt, die Entwicklung des weltweit einzigartigen SMART.WI KIT zum Leitungsmanagement in grünen Kraftwerken und die Ausgründung unseres ersten disruptiven Start-ups PEDLAR zur Senkung von Prozesskosten im Einkauf. Die schönsten Events im Lab sind die Führungen für unsere Werker im Lab. Das Interesse an den neuen Technologien ist hier riesig. 

Marco Henry Neumueller: Welche Eigenschaften muss man als familienfremder Manager mitbringen, um in einem Familienunternehmen wie Witzenmann erfolgreich zu sein?

Philip Alexander Paschen: Es ist wichtig, dass man bereit ist, sich längerfristig zu engagieren. Viele unserer Mitarbeiter sind seit Jahrzehnten bei uns. Das schafft die besondere Bindung zum Unternehmen. Jobhopper auf der Suche nach dem nächsten Karrieresprung sind daher nicht sonderlich geschätzt. Man muss die Kultur des Unternehmens verstehen und schätzen lernen, weil sie oft weniger formal, eindeutig strukturiert und weniger hierarchisch ist als in großen Konzernen. Flache Hierarchien und eine enge Einbindung in Projekte sind typisch für unser Haus. Man muss also auch als Führungskraft bereit sein zu arbeiten. Geduld und Resilienz sind ebenfalls wichtig, da Veränderungen in Familienunternehmen oft etwas langsamer voranschreiten, dafür ist der Atem, den wir haben, aber deutlich länger.

Marco Henry Neumueller: Eine persönliche Frage zum Schluss: Welches prägende Ereignis in Deinem Leben ist Dir am meisten in Erinnerung und warum?

Philip Alexander Paschen: Beruflich war die Übernahme der Geschäftsführung bei Witzenmann ein prägendes Ereignis. In der Vorgängergeneration war niemand operativ im Unternehmen tätig, sodass ich eigentlich wie ein externer Manager gestartet bin – „ohne Tuchfühlungsvorteile“ sozusagen. Das brachte viele Herausforderungen, aber auch wertvolle Erfahrungen für mich mit sich – die Lernkurve war also maximal steil.

Privat bin ich vergleichsweise spät Vater von zwei süßen Jungs geworden. So gesehen kam das Schönste im Leben bei mir recht spät. Dadurch bin ich noch viel dankbarer für dieses große Glück – vor allem meiner lieben Frau, die unsere Familie mit ihrer großen Liebe zusammenhält, und das, obwohl sie geschäftsführende Gesellschafterin ihres eigenen Familienunternehmens, der Kröner GmbH, ist. So gesehen haben wir mit den beiden Unternehmen „vier Kinder“ und führen ein erfülltes, aber ganz schön vollgepacktes Leben.

Marco Henry Neumueller: Ich danke Dir sehr herzlich für diesen offenen Austausch.