Dr. Nikolas Stihl ist Vorsitzender des Beirats der STIHL Holding AG & Co. KG und des Aufsichtsrats der STIHL AG.
Marco Henry Neumueller: Lieber Herr Stihl, nach Ihrem Maschinenbaustudium haben Sie sich Ihre ersten beruflichen Sporen mit Mercedes und Arthur D. Little außerhalb des Familienunternehmens verdient. Was führte dazu, dass Sie im Alter von 32 ins Unternehmen wechselten? War der Weg vorbestimmt oder war es eine gänzlich eigene Entscheidung?
Nikolas Stihl: Nein, das war eine absolut freie Entscheidung. Mein Vater hat uns Kindern weitgehene Freiheiten gelassen. Meinen Werdegang habe ich mir selbst so ausgesucht, und das eigene Unternehmen fand ich schon immer spannend. Ich habe hier meine ersten Ferienjobs gemacht und auch während des Studiums nie den Kontakt zu den Mitarbeitern und zum Unternehmen verloren. Als ich mir dann meine ersten Sporen verdient hatte – die ersten Fehler soll man außerhalb machen, heißt es ja immer so schön – dachte ich mir, dass es nun aber mal Zeit würde, das eigene Unternehmen etwas intensiver kennenzulernen. Ich habe dann darum gebeten, ins Unternehmen zu kommen; und wir haben uns eine Laufbahn überlegt.
Marco Henry Neumueller: Es ist heutzutage gar nicht mehr so üblich, dass Kinder von Unternehmerfamilien zwingend ins elterliche Familienunternehmen einsteigen. Diesen Nachfolgeautomatismus gibt es so nicht (mehr). Was raten Sie den sogenannten NextGens, die sich den Kopf darüber zerbrechen, ob sie den Schritt ins eigene Unternehmen wagen sollen?
Nikolas Stihl: Ich kann keinen neutralen Rat geben, da ich mich ja für den einen Weg entschieden habe. Ich kann nur sagen, dass es für mich die absolut richtige Entscheidung war. Als ich die Möglichkeiten entdeckt habe, selbständig und unternehmerisch gestalten und entscheiden zu können, wollte ich keinen anderen Weg mehr gehen. Auf diesem Weg habe ich eine Art Selbstverwirklichung gefunden. Insofern rate ich jedem, der die Chance hat, es auch zumindest zu versuchen.
Marco Henry Neumueller: 2021 war für Ihr Unternehmen ein Rekordjahr. Der Umsatz kletterte erstmals in der 96-jährigen Firmengeschichte auf über 5 Milliarden Euro. Welche Superlative planen Sie für die nächsten Jahre und wie wird sich möglicherweise das Produktportfolio ändern? Dass Akkugeräte einen immer größeren Stellenwert einnehmen, ist nicht zu übersehen.
Nikolas Stihl: Ja, das ist richtig. Wir wollen grundsätzlich jedes Jahr im Schnitt etwa fünf Prozent wachsen, das ist uns in den vergangenen Jahren auch gelungen. Das ist ein gesundes Wachstum, das einerseits stemmbar ist und uns gleichzeitig wettbewerbsfähig bleiben lässt. In den beiden letzten Jahren war das Wachstum deutlich größer. Aber natürlich kommen irgendwann auch wieder Zeiten mit niedrigeren Wachstumsraten. Wenn wir aber im Durchschnitt jedes Jahr diese fünf Prozent wachsen, dann kann man sich relativ schnell ausrechnen, wo wir dann in einigen Jahren stehen werden und wann wir die 6, 7 oder 8 Milliarden Euro Umsatz erreicht haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir das Potenzial haben, diese Größenordnungen zu erreichen.
Vor dem Hintergrund des gesamtwirtschaftlichen Umfelds, des Klimawandels und des European Green Deals wird sich unser Sortiment selbstverständlich ändern. Die Akkuprodukte werden, zumindest in der industrialisierten Welt, irgendwann den Löwenanteil beim Absatz einnehmen. Gleichwohl bin ich davon überzeugt, dass der Verbrennungsmotor noch sehr lange nicht vollständig ersetzbar sein wird. Dies insbesondere für Anwendungsfälle, bei denen man für längere Zeit sehr hohe Leistungen braucht, also für Vollprofianwendungen. Aber auch in Regionen, in denen die Stromversorgung nicht so stabil oder gar nicht vorhanden ist. In diesen Bereichen braucht es einen größeren Energievorrat in einem relativ kleinen und tragbaren Package. Hier sind flüssige Kraftstoffe so schnell nicht zu ersetzen.
Wenn man beispielsweise einen 5 Liter Kanister Benzin ersetzen will, braucht man Akkukapazitäten mit einem Gewicht von rund 60 Kilogramm. Das macht für die Arbeit mit einem tragbaren Gerät einen großen Unterschied. Deswegen wird man für viele Anwendungen in absehbarer Zeit auch noch Verbrennungsmotoren benötigen.
Marco Henry Neumueller: Sind Sie bei der Entwicklung von klimaneutralen Kraftstoffen mit beteiligt?
Nikolas Stihl: Auch wir beschäftigen uns mit der Entwicklung umweltfreundlicher Kraftstoffe. STIHL hat gerade einen Sonderkraftstoff auf den Markt gebracht, der durch die Beimischung von Rohstoffen aus regenerativen Quellen mindestens 8 Prozent weniger CO2 emittiert als die vorherige Kraftstoffgeneration. Den CO2-Gehalt wollen wir in den nächsten 5 bis 10 Jahren um 90 oder sogar bis zu 100 Prozent senken. Dabei muss man fairerweise anmerken, dass unsere Geräte vergleichsweise wenig Kraftstoff verbrauchen! Eine Jumbo-Tankfüllung für einen Flug über den Atlantik treibt viele Motorsägen für einen langen Zeitraum an. Insofern sind wir darauf angewiesen, dass andere Industrien die großtechnische Umsetzung massiv vorantreiben. Wir werden die eigenen Entwicklungen dazu parallel laufen lassen.
Marco Henry Neumueller: Jedes Familienunternehmen hat eine spezifische Unternehmenskultur mit ganz eigenen Werten. Wie würden Sie die Kultur bei Stihl beschreiben und wie hat sich diese möglicherweise mit dem Generationswechsel, von der 2. auf die 3. Generation verändert?
Nikolas Stihl: Aus unserer Unternehmenskultur heraus haben wir den Anspruch, die Besten zu sein und unseren Kunden innovative Produkte und höchste Qualität zu bieten. Außerdem arbeiten wir traditionell nachhaltig und sind sehr mitarbeiterorientiert. Das zeigt sich auch daran, dass die meisten STIHL Mitarbeitenden auch tatsächlich bei uns bleiben. Obwohl wir in den letzten Jahren sehr viele neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinzugewonnen haben, liegt die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit immer noch bei über 15 Jahren. Also: einmal „STIHLer“, immer „STIHLer“. Das verstehen wir als eine Auszeichnung, über die wir uns sehr freuen. Hat sich etwas geändert durch den Übergang auf die dritte Generation? Ja, ich glaube, die Unternehmensführung agiert heute auf einer breiteren Basis. Gleichwohl fühlt sich auch die dritte Generation den Werten des Unternehmens stark verpflichtet. Da wir uns sehr in die Auswahl der obersten Führungsebene einbringen, sorgen wir dafür, dass unsere Werte auch von oben vorgelebt werden. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, dass es uns gelingt, diese Grundwerte weltweit unseren vielen Tochterunternehmen so zu vermitteln, dass diese auch dort gelebt werden.
Marco Henry Neumueller: Mit Ihnen ist die dritte Generation im Unternehmen. Nun gibt es aber auch eine vierte Generation, die teilweise Mitte 20 sein dürfte. Sie selbst haben auch zwei Kinder. Erkennt man hier schon Interesse am Unternehmen und wie wird die 4. Generation ans Unternehmen herangeführt?
Nikolas Stihl: Wir führen die vierte Generation sehr bewusst an das Unternehmen heran. Das ist deswegen notwendig, da die dritte Generation eben nicht mehr sehr stark lokal um das Stammhaus herum wohnt. Man muss bedenken, die zweite Generation ist quasi hier im Werk aufgewachsen, das Wohnhaus stand mitten im Werk. Die dritte Generation ist im Umkreis von vielleicht 20, 30 Kilometern ums Werk herum groß geworden. Die vierte Generation lebt weiter weg. Unsere Kinder sind deutlich internationaler und möchten weltweit Erfahrungen sammeln. Man muss ihnen diese berufliche Freiheit ermöglichen, die wir selbst genossen haben. Wir zwingen niemanden, ins Unternehmen zu gehen, aber die Einladung ist da. Die Heranführung an unser Familienunternehmen ist heute etwas formaler, als es früher der Fall war. Wir bieten den Kindern bewusst an, in die Firma hineinzuschnuppern und die Menschen dort kennenzulernen – und damit auch ihr Interesse zu wecken. Ob das letztlich dazu führt, dass sich die vierte Generation im Unternehmen engagieren möchte, können wir jetzt noch nicht sagen. Wir haben unser Familienunternehmen allerdings so aufgestellt, dass es keinen Schaden nähme, wenn das nicht der Fall wäre.
Marco Henry Neumueller: Klimakrise, Corona, Krieg, steigende Energiepreise, Lieferkettenengpässe, … – diese Liste ließe sich nun beliebig fortführen. Wie geht ein global agierendes Unternehmen wie Stihl, das 90% seines Umsatzes im Ausland erwirtschaftet, mit diesen Herausforderungen um und wie wird sich das Unternehmen in Zukunft aufstellen müssen?
Nikolas Stihl: Wir haben in den zwei Jahren seit Beginn der Pandemie lernen müssen, wo unsere Lieferketten verwundbar sind. Wir werden uns resilienter aufstellen müssen; das ist klar. STIHL wird daher die Lieferketten weiter diversifizieren. Wir müssen vor allem auch damit rechnen, dass sich die Rivalität zwischen den USA und China verschärft und geopolitische Konflikte zunehmen, was sich auch auf unsere Lieferketten auswirken kann. Wir müssen uns also wesentlich unabhängiger aufstellen, damit wir uns nicht eines Tages entscheiden müssen, ob wir nun in die USA oder nach China liefern. Wir würden gerne beim Sowohl-als-auch bleiben.
Dies kann allerdings auch dazu führen, dass wir dann in den USA sehr lokal für den dortigen Markt und in China wiederum sehr lokal für jenen Markt produzieren – also eine „local for local“-Strategie, obwohl der globale Austausch seither immer gut funktionierte. Diese Umstellung wird sicherlich ein paar Jahre dauern, aber wir wissen heute, in welche Richtung wir gehen müssen. Letztlich wird der Konsument der Leidtragende sein. Diese Art von Globalisierung, die wir vor der Pandemie und den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen kannten, wird es in dieser Form vermutlich nicht mehr geben. Sie war sehr effizienzgetrieben und hat dazu geführt, dass eine Vielzahl von Produkten, obwohl technisch immer anspruchsvoller, deutlich günstiger wurden. Sich resilienter aufzustellen, heißt aber auch, dass es in Summe teurer werden wird. Am Ende wird es irgendjemand bezahlen müssen, und das wird der Konsument sein.
Auf der anderen Seite gehen wir diese Herausforderungen mit Selbstbewusstsein an. Wir sind Technologieführer und wollen das auch bleiben.
Marco Henry Neumueller: Das wünsche ich Ihnen und danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.