Stefan Leitz ist Vorstandsvorsitzender der Faber-Castell AG in Stein.
Marco Henry Neumueller: Lieber Herr Leitz, seit zweieinhalb Jahren sind Sie nun CEO der Faber-Castell AG. Was für ein Unternehmen haben Sie seinerzeit vorgefunden und was konnten Sie seit Ihrer Berufung in den Vorstand im Unternehmen bewegen?
Stefan Leitz: Faber-Castell ist ein Unternehmen mit einer einzigartigen Tradition und einer starken, international stark vertretenen und erfolgreichen Marke. Die Leidenschaft und Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Unternehmen – von der Führungskraft bis zum Kollegen an der Pforte oder den Mitarbeitenden an den Maschinen – hat mich besonders beeindruckt. Mir begegneten Herzlichkeit und Offenheit vom ersten Tag an – diese Willkommenskultur ist großartig. Gleichzeitig habe ich aber auch ein Unternehmen vorgefunden, das auf der Suche nach Orientierung war. Man darf dabei nicht vergessen, dass der verstorbene Graf Anton-Wolfgang das Unternehmen 40 Jahre geleitet und geprägt hat. Nach seinem Tod hat das Management das Bestmögliche gemacht, gleichzeitig bedarf es für einen derartig tiefgreifenden Veränderungsprozess Zeit und ein globales Teamwork.
Darüber hinaus kam noch eine Besonderheit hinzu. Am 19. März 2020 war mein erster Tag im Unternehmen und kurz zuvor hatten wir in Deutschland den ersten Covid-Fall in der Belegschaft. Somit stand mein Start hier unter besonderen Vorzeichen. Die Einarbeitung sah anders aus, als sie geplant war: Es gab keine echte Übergabe und ab Tag eins musste ich Krisenmanagement betreiben.
Eine Situation wie Corona, in der wir über Nacht in fast allen Ländern mit Schulschließungen und Lockdowns im Einzelhandel zu kämpfen hatten, die dann teilweise zwei Jahre andauerten, war für uns alle neu. Wir mussten erst einmal lernen, damit umzugehen. Jedoch bietet eine derartige Disruption auch immer Gelegenheiten, den bisherigen Kurs wo nötig zu verändern. Wir sind in dieser Krise an uns selbst gewachsen – haben gelernt mit einem außergewöhnlichen Stresslevel umzugehen und unsere Resilienz und Agilität zu stärken. Diese Zeit habe ich für mich als Chance gesehen, Menschen in Belastungssituationen kennenzulernen und umgekehrt war das bestimmt genauso.
In einer außergewöhnlichen Krisensituation wie Corona war schnell ersichtlich, dass gelernte Prozesse, die uns immer erfolgreich gemacht hatten, vielleicht nicht mehr griffen und wir unter neuen Rahmenbedingungen auch andere Vorgehensweisen brauchten. Das hat dazu geführt, dass wir international stärker zusammengearbeitet haben. Wir haben gemeinsam ein Verständnis entwickelt, wie wir stärker aus der Situation herauskommen.
Marco Henry Neumueller: Das war der Blick zurück. Lassen Sie uns nun nach vorne blicken. Wo sehen Sie das Unternehmen in den nächsten fünf Jahren?
Stefan Leitz: Wir haben unsere neue Strategie „One Faber-Castell – Creating a Colorful Future“ im März mit dem Aufsichtsrat und der Familie verabschiedet und bis Juli 2022 weltweit allen Mitarbeitenden persönlich vorgestellt. In fünf Jahren wollen wir eine weiterentwickelte Unternehmenskultur haben und uns weltweit als ein globales Unternehmen mit klarem, nachhaltigem Wachstum sehen. Corona hat geholfen, Silodenken abzuschaffen und unser Bewusstsein für die internationale Zusammenarbeit zu schärfen. In der Supply Chain, in der Beschaffung oder auch in der Produktion werden wir mehr Synergien finden. Gleichzeitig wollen wir aber die Kompetenz und den Fokus auf Konsumenten*innen und den Kunden in den einzelnen Ländern lassen. In dieser Balance der „Glokalisierung“ werden wir in fünf Jahren stärker wachsen als der Markt.
Ein weiteres Ziel ist die Digitalisierung. Dieses wird Arbeitsabläufe und Prozesse betreffen, zum anderen aber auch unsere Produktion. Wir werden in Asien in ausgewählten Märkten wesentlich größer sein als heute. Es ist kein Geheimnis, dass wir dabei an China und Indien denken. Dort sind wir zwar schon vertreten, nutzen jedoch nicht das volle Potential der Marke Faber-Castell. Wir erwarten auch in einigen Märkten, in denen wir mit Distributoren zusammenarbeiten, einen deutlich größeren Umsatzanteil.
Sowohl m Produkt- als auch im Verpackungsbereich werden wir deutlich innovativer. Unsere in der Branche führende Position in Sachen ESG möchten wir weiter ausbauen. Beispielsweise wollen wir in fünf Jahren den Anteil recycelter Kunststoffe oder alternativer umweltfreundlicher Materialien in unseren Verpackungen und Produkten substantiell weiterentwickelt haben. In Peru stellen wir gerade komplett von Kunststoffverpackungen auf Kartonverpackungen um.
Wir nutzen heute schon über 85% erneuerbare Energien und wollen uns sukzessive der 100% nähern. Man könnte das liebevoll Storytelling nennen, aber ich nenne das „Historytelling“. Wir haben eine Geschichte, auf die wir stolz sein können, und ich bin es auch. Lange bevor das Buzzword Nachhaltigkeit in unserem Sprachgebrauch Einzug gehalten hat, hat Faber-Castell schon sozial und umweltverantwortlich gehandelt: Der verstorbene Graf Anton hat beispielsweise Mitte der 1980er Jahre 10.000 Hektar Farmland in Brasilien gekauft. Dort wurden Bäume angepflanzt, um diese 20 Jahre später zu ernten und Bleistifte zu produzieren. Vielleicht hatte er damals auch schon an das Thema CO2 gedacht? Wir wissen es nicht. Wir produzieren in unseren Werken bereits seit 2014 CO2-neutral.
Marco Henry Neumueller: Welche Auswirkungen haben Ihrer Meinung nach die aktuellen geopolitischen Veränderungen auf Faber-Castell und seine Absatzmärkte?
Stefan Leitz: So wie alle Branchen leiden auch wir unter den Effekten der unterbrochenen Lieferketten. Zusätzlich haben wir auch mit signifikanten Kostenerhöhungen zu kämpfen, sei es bei Energie oder Personal, oder auch bei unseren Grundstoffen wie beispielsweise bei Holz.
Oberste Priorität bei uns ist, die Produktion und die Supply Chain sicherzustellen. Dafür nehmen wir auch ein paar Kompromisse in Kauf und erhöhen die Vorräte.
Gleichzeitig sind wir gefordert, Kostensteigerungen in großen Teilen weiterzugeben, wenn wir sie nicht durch eine höhere Produktivität ausgleichen können. Wir glauben, dass die Akzeptanz unserer starken Marke im Handel dabei hilft. Ohne klar positionierte Marke, beispielsweise im Mittelsegment, hat man es deutlich schwerer.
Die Herausforderungen, denen wir jetzt und in den nächsten Jahren begegnen, sind größer als Corona. Wir werden jedoch daran wachsen. Ich bin jetzt 32 Jahre im Berufsleben und habe auch noch nie eine Inflation von sieben bis acht Prozent erlebt. Wir glauben jedoch an uns und an unsere Stärke, Flexibilität und an die Marke, die wir aufgebaut haben.
Marco Henry Neumueller: Wenn man Faber-Castell liest, denkt man sofort an Stifte. Nun leben wir im 21. Jahrhundert, das papierlose Büro wird propagiert, Jugendliche, Schüler und Studenten nutzen Smartphone, Tablet und andere digitale Hilfsmittel. Welche Daseinsberechtigung haben Stifte in so einer Zeit noch? Werden sie überhaupt noch gebraucht?
Stefan Leitz: Werden sie. Doch bevor ich darauf eingehe, erlauben Sie mir einen kurzen Vergleich. Zurzeit ist Home-Delivery in zehn Minuten en vogue. Und gleichzeitig erleben wir eine Renaissance der Wochenmärkte. Jeder Trend hat einen Gegentrend. Ich bin der festen Überzeugung, dass es auch in zehn und zwanzig Jahren noch eine Notwendigkeit gibt, analog zu schreiben. Die Digitalisierung sehen wir nicht als Feind, sondern eher als Chance. Zunächst einmal intern, um effizienter zu werden. Aber auch im Hinblick auf unser Kerngeschäft. Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel, warum ich hier so überzeugt bin. Ich war in den letzten vier Monaten in fast 20 Ländern unterwegs, um zusammen mit meinen Vorstandskollegen unsere Strategie allen Mitarbeitenden vorzustellen. Dabei habe ich mit vielen Kund*innen und Multiplikatoren gesprochen. Klar ist: egal ob man in Lima oder Kuala Lumpur oder in Nürnberg ist, alle Eltern wünschen sich, dass die eigenen Kinder es einmal besser haben, oder es den Kindern einmal genauso gut ergeht. Darüber hinaus stellen sich Eltern mehrheitlich die Frage, wie man die Zeit der Kinder mit den elektronischen Geräten reduzieren kann. Wie bekommt man die Kleinen weg vom Bildschirm, vom iPad, weg vom Handy. Das ist eine große Chance für uns. Wir treten in den Wettbewerb mit der Spielwarenindustrie und auch mit Computerspielen. Wir buhlen um die Freizeit von Menschen außerhalb der schulischen Aktivitäten. Da kommt unsere Unternehmensvision ins Spiel. Wir setzen kreative Fähigkeiten frei. Laut der „Future of Jobs“ Studie des World Economic Forums ist Kreativität eine der Top 5 Fähigkeiten, die im Berufsleben der Zukunft benötigt werden. Und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Entwicklung des Gehirns durch die Feinmotorik beim Schreiben und Zeichnen gefördert wird. Unsere Aufgabe sehen wir darin, dies gegenüber unseren Kundinnen und Kunden zu kommunizieren und für sie Lösungsansätze zu bieten.
Insofern glaube ich, dass wir eine durchaus positive Zukunft bei Faber-Castell vor uns haben.
Marco Henry Neumueller: Der Presse war vor einiger Zeit zu entnehmen, dass sich die Familie Faber-Castell eine neue Inhaberstrategie gegeben habe. Die Mitglieder der neunten Generation, so hieß es damals, wollen als aktive Gesellschafter*innen das Unternehmen kontrollieren. Wie nehmen Sie die Zusammenarbeit mit der Familie wahr und welche Rollen spielt für Sie die enge Zusammenarbeit mit der Familie?
Stefan Leitz: Die Familie hat eine große Verantwortung und diese ist auch erlebbar. Auch die neunte Generation möchte das Unternehmen erfolgreich weiterentwickeln. Mit Gräfin Mary und Graf Charles im Aufsichtsrat ist die Familie bei wesentlichen Themen nah am Geschäft, beispielsweise ist sie an der Weiterentwicklung der Marke aktiv beteiligt. Auch bei der Strategieentwicklung hatten wir einen intensiven Austausch. Ich nehme die Zusammenarbeit als sehr angenehm wahr. Vielen im Unternehmen ist es auch wichtig, dass die Familie zu besonderen Anlässen zugegen ist. Wir sind eben ein echtes Familienunternehmen.
Marco Henry Neumueller: Mit Faber-Castell und davor mit Kühne bzw. Wella haben Sie drei Familienunternehmen kennenlernen dürfen. Davor waren Sie vornehmlich für Großkonzerne wie Unilever oder Procter & Gamble tätig. War der Wechsel in Familienunternehmen ein Kulturschock für Sie? Was fasziniert Sie an dieser besonderen Unternehmensform?
Stefan Leitz: Von meinen 32 Jahren Berufserfahrung habe ich etwa zwei Drittel in Konzernen und ein Drittel in Familienunternehmen verbracht. Ich möchte diese Zeit nicht missen. Diese Aufgaben im Konzern oder im Familienunternehmen sind sehr vergleichbar, die Vorgehensweise ist jedoch manchmal eine andere. Ich versuche, mein Knowhow aus beiden Welten nun zum Wohle von Faber-Castell einzubringen. Es gibt dabei kein richtig oder falsch. In Konzernen hatte ich schöne Erlebnisse, die jedem Unternehmen, unabhängig von der Eigentümerstruktur, guttäten. Und es gibt auch konzerntypische Erfahrungen, die ich nicht mehr machen möchte. Gleichzeitig konnte ich in Familienunternehmen zahlreiche neue Dinge lernen und lerne gerne auch heute noch dazu.
Ich bin durch und durch ein Markenfan und verspüre einen großen Reiz darin, Markenikonen wie Faber-Castell weiterzuentwickeln, damit sie in Zukunft noch mehr Strahlkraft besitzen. Dies geht aber Hand in Hand mit der Entwicklung der Unternehmenskultur. Am Ende geht es um die Menschen und wie man diese für eine Idee begeistern kann. Erst wenn sie verstehen, warum wir möglicherweise Veränderungen brauchen und welche wichtige Rolle jeder Einzelne dabei spielt, dann begleiten sie mit intrinsischer Motivation den Prozess, und nicht nur, weil sie es müssen. Diese Herausforderung ist für mich ein toller Ansporn.
Marco Henry Neumueller: Welchen Ratschlag würden Sie Fremdmanagern geben wollen, die für ein Familienunternehmen tätig sind?
Stefan Leitz: Ich würde ihnen sagen: „Lieber Manager, nimm dich zurück.“ Auch wenn ich hier sogenannter Vorstandsvorsitzender bin, bin ich nicht Eigentümer. Diese Haltung ist in Konzernen anders. Da gibt es alle x Jahre einen neuen CEO oder einen neuen Landeschef. Die Kontinuität von Familienunternehmen erfordert eine Zurücknahme des eigenen Egos und eine Fokussierung auf die Bedürfnisse und Perspektiven der Eigentümerfamilie.
Ich sehe meine Rolle als Fremdmanager darin, mit meiner Erfahrung professionelle Vorschläge zur Geschäftsentwicklung zu liefern. Neben der kaufmännischen Sicht zählen in Familienunternehmen aber auch Tradition oder kulturelle Beweggründe zu den wichtigen Entscheidungsparameter. Davor habe ich tiefen Respekt, Demut und höchste Achtung.
Marco Henry Neumueller: Herr Leitz, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Über das Familienunternehmen Faber-Castell
Faber-Castell ist eines der weltweit führenden Unternehmen für hochwertige Produkte zum Schreiben, Zeichnen und kreativen Gestalten sowie dekorativer Kosmetikprodukte. Mit über zwei Milliarden Blei- und Farbstiften pro Jahr und rund 6.500 Mitarbeitenden ist Faber-Castell der bedeutendste Hersteller von holzgefassten Stiften weltweit. Heute ist das Unternehmen in über 120 Ländern vertreten und verfügt über eigene Produktionsstätten in zehn sowie Vertriebsgesellschaften in 22 Ländern weltweit. Das 1761 gegründete Industrieunternehmen Faber-Castell ist eines der ältesten der Welt und seit neun Generationen im Besitz der Familie. Seine führende Position auf dem internationalen Markt verdankt das Unternehmen der traditionellen Selbstverpflichtung zu höchster Qualität, Umweltverantwortung und der großen Zahl der Produktinnovationen. Der Gruppenumsatz im Jahr 20/21 betrug 452 Mio. Euro.